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2084 - Noras Welt (German Edition)

2084 - Noras Welt (German Edition)

Titel: 2084 - Noras Welt (German Edition)
Autoren: Jostein Gaarder
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gibt.«
    »Du hast sie echt nicht mehr alle.«
    »Aber du hast mich auf die Idee gebracht.«
    »Was? Ich?«
    »Du hast in deinem Referat darüber geschrieben. Du hast geschrieben, dass du einen Fonds für alle von der Ausrottung bedrohten Blattlausarten einrichten willst. Also hab ich mich gefragt, um wie viele Arten es hier wohl geht.«
    »Das hatte ich total vergessen. – Wie wär’s übrigens, wenn wir zur Abwechslung versuchen, ein bisschen zu schlafen.«
    »Sei nicht so langweilig, Jonas! Als du mir die SMS geschickt hast, hatte ich schon eine ganze Sekunde lang geschlafen, und jetzt bin ich hellwach.«
    »Nach so einem Tag schläfst du bestimmt bald wieder ein. Außerdem wirst du wahrscheinlich früh geweckt. Oder glaubst du nicht, dass dein Vater dir Rosinenbrötchen und Limonade ans Bett bringen wird?«
    »Belegte Brote und Tee, Jonas. Ich bin schon zu alt für Rosinenbrötchen und Limonade.«
    »Dann sag ich jetzt Gute Nacht.«
    »Weißt du, was ich mache, wenn ich nicht einschlafen kann?«
    »Schafe zählen?«
    »Nein, aber du liegst nicht ganz verkehrt. Ich werde die Augen schließen und Blattläuse zählen, diese wuseligen knallroten. Und morgen erzähl ich dir, wie weit ich gekommen bin, bis ich wieder im Land der Träume war.«
    »Vielleicht mach ich’s ja genauso. Und morgen sehen wir, wer zuletzt eingeschlafen ist. Gute Nacht, Nora! Bis morgen!«

DAS DORF
     
    Es ist Nacht und stockfinster, aber sehr heiß. Sie sitzt zusammen mit drei jungen Männern in ihrem Alter am Rand des Dorfes auf dem Boden. Im bläulichen Schein einer Gaslampe sieht sie, dass alle mit Automatikwaffen ausgerüstet sind. Die Gaslampe hängt vom Giebel eines baufälligen Schuppens. Am Schuppen lehnen zwei Säcke Mais, auf den Säcken steht: WORLD FOOD PROGRAMME .
    Aus dem Busch hört sie das Zirpen der Grillen. Aus dem Dorf in der Nähe hört sie Frauen, die plaudern und lachen, dann eine meckernde Ziege und plötzlich ein weinendes Baby. Als das Weinen gleich wieder verstummt, denkt sie, dass das Kind wohl an die Brust gelegt worden ist.
    Sie hat keine Angst, aber ihr geht allmählich auf, wo sie sich befindet und dass sie Ester ist; dass das Leben sie zu einer Geisel an einem einsamen Ort im Grenzland zwischen Somalia und Kenia gemacht hat.
    Vor der Gaslampe flattern Fledermäuse. Sie sieht die Geiselnehmer an. Als die nicken, greift sie nach den Würfeln, mit denen sie spielen, und würfelt auch. Die Würfel rollen über den rotbraunen Lehmboden zwischen ihr und den Männern, und als sie liegen bleiben, zeigen sie alle Sechser. Sie lächelt verlegen, weil sie so viele Sechser geworfen hat. Auch die Männer mit den Automatikwaffen lächeln.
    »You are a winner!« , ruft der eine.
    Ein anderer fügt mit düsterem Unterton hinzu: »White people from the North are always winners.«
    Zwischen ihnen stehen eine Flasche rote Limonade und vier Gläser. Einer der Männer schenkt ein.
    Sie schaut auf. Es ist Neumond, aber am Himmel prangen die Sterne, wie sie es noch nie gesehen hat. Unfassbar, denkt sie, dass es bei einem solchen Blick ins Universum so viel Krieg und Feindschaft geben kann. Sie schämt sich für die Menschheit.
    Das energische Sirren der Grillen und die vereinzelten Geräusche des nahe gelegenen Dorfs betonen nur die Stille der Nacht. Die vertrauten Laute aus dem Dunkel haben etwas Beruhigendes.
    Aber plötzlich bewegt sich etwas im Gebüsch. Scharfe Schüsse und wütende Befehle in einer ihr unverständlichen Sprache bereiten der Idylle ein jähes Ende. Einem der Geiselnehmer gelingt es noch, eine Salve abzugeben, doch gleich darauf liegen sie alle auf dem Boden und flehen um Gnade, auch Ester. Sie tut es denen nach, mit denen sie zusammen ist: Sie wirft sich zu Boden und fleht um Gnade. Aus dem Dorf hören sie die Schreckensschreie einer Frau, die eben noch geplaudert und gelacht hat. Das Baby fängt wieder an zu weinen.
    Die Geiselnehmer werden mit Handschellen gefesselt und zu einem grünen Jeep geführt, der aus dem Dunkel aufgetaucht ist. Um Ester kümmert sich ein grün gekleideter Offizier, der in fließendem Englisch ruft:
    »Best wishes from your father Benjamin!«

ESTER
     
    Nora hatte einige wenige Stunden geschlafen, aber als sie aufwachte, hatte sie das Gefühl, für Monate fort gewesen zu sein. Und wieder an einem anderen Ort auf der Welt. Kurz bevor das Telefon klingelte, vielleicht auch im selben Moment, erinnerte sie sich, dass sie Ester gewesen und am Horn von Afrika als Geisel genommen worden
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