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2084 - Noras Welt (German Edition)

2084 - Noras Welt (German Edition)

Titel: 2084 - Noras Welt (German Edition)
Autoren: Jostein Gaarder
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Sie fand nicht, dass sie sich wegen irgendetwas schämen müsste; es schmeichelte ihr sogar, dass sie von einem Psychiater untersucht werden sollte.
    Sie verlangte nur, dass sie ohne Eltern hinfahren durfte, und Jonas bot an, sie zu begleiten. Als Noras Eltern darauf bestanden, dass einer von ihnen dabei sein müsse, kam es zu dem Kompromiss, dass Nora zwar mit Jonas fahren durfte, aber ihre Mutter in einem anderen Abteil desselben Zuges saß.
    Es war früher Nachmittag, als die drei das Rikshospital in Oslo erreichten, wo Nora den Termin bei dem Psychiater hatte. Die anderen beiden durften nicht mit ins Sprechzimmer, und Nora merkte, dass ihre Mutter das als Niederlage erlebte. Sie wäre gern dabei gewesen, wenn die Seele ihrer Tochter erforscht wurde. Stattdessen musste sie wie Jonas im Wartezimmer ausharren.
     
    Dr. Benjamin gefiel Nora vom ersten Augenblick an. Er war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und hatte seine langen, schon ein wenig grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. In einem seiner Ohrläppchen saß ein winzig kleiner veilchenblauer Stern, und aus der Brusttasche seines schwarzen Jacketts lugte ein roter Filzstift. Er hatte ein humorvolles Funkeln in den Augen und schaute Nora an wie jemand, der sich wirklich für sie interessierte.
    Sie erinnerte sich noch gut an seine ersten Worte, nachdem er sie begrüßt und die Tür zum Wartezimmer geschlossen hatte. Er sagte ihr, sie hätten Glück, der Termin danach sei abgesagt worden, weshalb er jetzt besonders viel Zeit für sie habe.
    Die Sonne schien in das Zimmer mit den weißen Wänden, und Nora sah die herbstlich roten und gelben Blätter der Bäume vor dem Fenster. Irgendwann im Laufe des Gesprächs entdeckte sie ein Eichhörnchen, das am Stamm einer Kiefer auf und ab huschte.
    »Sciurus vulgaris« , rief sie, »das rotbraune Europäische Eichhörnchen. In England kommt es nicht mehr so häufig vor, da wird es gerade von den Grauhörnchen aus Amerika verdrängt.«
    Der Psychiater schaute sie verwundert an, und Nora überlegte, ob er vielleicht von ihrem Wissen beeindruckt war. Als er sich in seinem Bürostuhl nach dem Eichhörnchen umdrehte, bemerkte sie das Foto einer schönen Frau. Es stand in einem roten Rahmen auf dem Schreibtisch. Eine Tochter oder seine Frau? Nora wollte ihn schon fragen, aber als er sich ihr wieder zuwandte und sein Schatten auf das Bild fiel, tat sie es nicht.
    Nora hatte sich natürlich überlegt, wie so eine psychiatrische Untersuchung wohl ablief. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie der Psychiater es schaffen wollte, ihr in den Kopf zu sehen, aber sie hatte sich ausgemalt, dass er ihr vielleicht mit einem speziellen optischen Instrument in die Augen schauen würde. Vielleicht blickte er ihr auch durch die Augen hindurch ins Gehirn, oder durch die Nase und den Mund, schließlich war ein Psychiater, das wusste sie, ein richtiger Arzt und nicht nur ein Psychologe. Hätte man sie allerdings danach gefragt, dann hätte sie nicht sagen können, ob sie an solche Untersuchungsmethoden tatsächlich glaubte; es waren wohl eher Fantasien, die ihr wie schnelle Filmsequenzen kurz vor Augen gestanden und sich dann wieder verflüchtigt hatten. Wovor sie wirklich Angst hatte, war, dass der Psychiater sie hypnotisieren wollte, um zu den Geheimnissen ihrer Seele vorzudringen. Sie hoffte, das mit der Hypnose werde ihr erspart bleiben, denn ihr missfiel die Vorstellung eines Kontrollverlusts, bei dem sie womöglich alle ihre Geheimnisse preisgab. Da sollte ihr der Psychiater lieber mit irgendwelchen Instrumenten zu Leibe rücken.
    Und dann hatten sie nur miteinander geredet! Der Psychiater stellte Nora viele interessante Fragen, und das Gespräch wurde bald so locker, dass sie den Mut fand, ihm ihrerseits Fragen zu stellen. Wie also stand es um Dr. Benjamin selbst? Fielen ihm manchmal auch merkwürdige Geschichten ein, die er dann seiner Familie und seinen Freunden erzählte? Träumte er manchmal auch, jemand anders zu sein als der, der er tatsächlich war? Waren seine Träume auch schon einmal wahr geworden?
    Am Ende fasste Dr. Benjamin das Gespräch vorläufig zusammen.
    »Nun, Nora«, sagte er, »ich kann bei dir keinerlei Anzeichen für eine psychische Erkrankung erkennen. Du besitzt eine ungewöhnlich ausgeprägte Fantasie und eine verblüffende Fähigkeit, dir Situationen vorzustellen, die du nicht selbst erlebt hast. Das mag dir bisweilen zu schaffen machen, aber krank bist du nicht.«
    Damit hatte Nora auch
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