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1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
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Glückspilz, Dunford.«
    Ich war voller Schuldgefühle, hatte zerschlissene Nerven, zuviel Scotch getrunken oder zu wenig, und die Unterhaltung nahm eine merkwürdige Wendung. »Was meinst du damit? Was weißt du eigentlich?«
    »Wieviel Zeit hast du noch?«
    Ach Scheiße, bin zu müde, um dieses Spiel zu spielen. »Ja, ja, ich weiß, was du meinst.«
    Aber Barry hatte mir schon den Rücken zugekehrt und unterhielt sich mit einem Kerl an der Bar, einer Bohnenstange in einem dicken kastanienbraunen Anzug mit orangefarbenen Daunenhaaren; unruhige Blicke aus schwarzen Augen schossen über Barrys linke Schulter in meine Richtung.
    Böser bescheuerter Bowie.
    Ich spitzte die Ohren, aber das Federkleid auf der kleinen Bühne stimmte nun Don’t Forget to Remember an.
    Ich sah zur Decke, zu Boden und zurück zur Theke.
    »Na, geht’s dir gut?« Kathryns Augen waren müde.
    Ich dachte, jetzt kommt’s. »Ach, du kennst doch Barry. Wird ‘n bißchen begriffsstutzig«, flüsterte ich.
    »Begriffsstutzig? Ziemlich starker Tobak aus deinem Mund.«
    Ich wich dem einen Köder aus und biß beim nächsten an.
    »Und was ist mit dir?«
    »Was soll mit mir sein?«
    »Geht’s dir gut?«
    »Oh, ich liebe es, zwölf Tage vor Weihnachten allein an einer Bar zu stehen.«
    »Du bist nicht allein.«
    »Na, jedenfalls, bis Steph kam.«
    »Hättest ja rüberkommen können.«
    »Ich bin nicht eingeladen worden.«
    »Lahme Ausrede«, lächelte ich.
    »Na dann, wenn du mich schon fragst, ich hätte gern einen Wodka.«
    »Ich glaub, ich nehm’ auch einen.«
     
    Die kalte Luft brachte nicht viel.
    »Ich liebe dich«, lallte ich und konnte nicht mehr gerade stehen.
    »Na komm schon, das Taxi ist da.« Eine Frauenstimme, die von Kathryn.
    Der Wunderbaum »Fichtenduft« half auch nicht wirklich.
    »Ich liebe dich«, lallte ich.
    »Wehe, er kotzt«, brüllte der pakistanische Taxifahrer über die Schulter nach hinten.
    Ich konnte in all dem Fichtenduft seinen Schweiß riechen.
    »Ich liebe dich«, lallte ich.
     
    Kathryns Mutter schlief, ihr Vater schnarchte, und ich kniete auf dem Boden vor der Toilette.
    Kathryn machte die Tür auf und das Licht an, und das brachte mit einem Schwung alles hoch.
    Das Kotzen tat weh und brannte, aber ich wollte nicht, daß es jemals aufhörte. Als ich schließlich fertig war, starrte ich eine ganze Weile den Whisky und den Schinken an, den ganzen Schleim im Klo und auf dem Boden.
    Kathryn legte mir ihre Hände auf die Schultern.
    Ich versuchte die Stimme in meinem Kopf zu orten, die da sagte: Es gibt tatsächlich Menschen, die sich um dich sorgen, das hätte ich nie für möglich gehalten.
    Kathryn schob ihre Hände unter meine Arme.
    Ich wollte nie wieder aufstehen. Als ich es schließlich doch tat, fing ich an zu weinen.
    »Na komm, mein Lieber«, flüsterte Kathryn.
     
    In der Nacht wachte ich dreimal von demselben Traum auf.
    Jedesmal dachte ich, jetzt bin ich in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, geh wieder schlafen.
    Jedesmal derselbe Traum. Eine Frau auf einer Straße mit Reihenhäusern, die eine rote Strickjacke um sich schlingt und mir den Lärm von zehn Jahren ins Gesicht schreit.
    Jedesmal schoß eine Krähe oder ein ähnlicher schwarzer Vogel aus einem Himmel von tausenderlei Grau herab und krallte sich in ihr blondes Haar.
    Jedesmal jagte er sie die Straße entlang und wollte ihr die Augen auspicken.
    Jedesmal erstarrte ich, erwachte frierend, Tränen auf dem Kissen.
    Jedesmal lächelte mich Clare Kemplay von der dunklen Zimmerdecke aus an.

2. K APITEL
    7.55 Uhr.
    Samstag, 14. Dezember 1974.
    Ich saß in Millgarth im Büro von Detective Chief Superintendent George Oldman und fühlte mich wie Hundedreck.
    Das Zimmer war kahl. Keine Photographien, keine Urkunden, keine Trophäen.
    Die Tür ging auf. Schwarzes Haar, bleiches Gesicht, die Hand ausgestreckt, der Griff fest.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Dunford. Wie geht’s Jack Whitehead und Ihrem Chef?«
    »Gut, danke«, sagte ich und setzte mich wieder.
    Kein Lächeln. »Setzen Sie sich, junger Mann. Tasse Tee?«
    Ich schluckte und sagte: »Ja, bitte. Danke.«
    DCS George Oldman setzte sich, betätigte einen Schalter an seinem Schreibtisch und hauchte in die Sprechanlage: »Julie, Schätzchen. Zwei Tassen Tee, wenn es Ihnen gerade paßt.«
    Das Gesicht und die Haare: eine geschmolzene schwarze Plastiktüte über einer Schüssel aus Mehl und Schmalz.
    Ich biß die Backenzähne fest zusammen.
    Hinter ihm fiel blasser Sonnenschein durch die
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