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1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
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Weihnachtsmanns.
    Tränen strömten mir übers dreckige Gesicht, und ich ließ den Schuh fallen.
    Der Tunnel war etwa fünf Meter vor mir zugemauert worden, die Ziegel waren blau und mit weißen Wölkchen bemalt, der Boden mit Sackleinen und weißen Federn bedeckt.
    An den beiden Seitenwänden standen wohl zehn Spiegel in einer Reihe.
    Goldengel, Elfen und Sterne hingen von den Balken, alles glitzerte im Schein der Lampen.
    Da waren Schachteln und Tüten, Klamotten und Werkzeug.
    Da waren Kameras und Scheinwerfer, Tonbandgeräte und Tonbänder.
    Und am Fuß der blauen Mauer, am anderen Ende des Raums, lag George Marsh unter einem Stück blutigem Sackleinen.
    Auf einem Bett aus roten Rosen.
    Ich ging über am Boden liegende Federn zu ihm hin.
    Er drehte sich zum Licht, seine Augen Löcher, sein Mund offen, das Gesicht eine Maske aus rotem und schwarzem Blut.
    Marsh machte den Mund auf und zu, Blutbläschen bildeten sich und platzten, und aus seiner Magengrube stieg das Heulen eines sterbenden Hundes.
    Ich beugte mich über ihn und sah in die Löcher, aus denen früher einmal seine Augen geschaut hatten, in den Mund, in dem früher einmal seine Zunge Worte gebildet hatte, und spuckte aus.
    Ich richtete mich auf und zog das Sackleinen beiseite.
    George Marsh war nackt und lag im Sterben.
    Sein Brustkorb war rot, grün und schwarz, voller Kot, Schlamm und Blut.
    Schwanz und Hoden waren verschwunden, lose Hautfalten und Blutlachen überall.
    Er zuckte und streckte eine Hand nach mir aus; der kleine Finger und der Daumen waren alles, was ihm noch geblieben war.
    Ich richtete mich auf und warf die Decke über ihn.
    Er lag da, hob den Kopf, flehte um das Ende; sein leises Stöhnen erfüllte die Höhle.
    Ich ging zu den Tüten und Schachteln, warf sie um, verstreute Kleider und Lametta, Kinderspielzeug und Messer, Papierkronen und riesige Nadeln, suchte nach Büchern, suchte nach Wörtern.
    Ich fand Photos.
    Schachtelweise Photos.
    Schulmädchenphotos, Porträts, offenes Lächeln und große blaue Augen, blonde Haare und rosige Haut.
    Und dann sah ich wieder alles vor mir.
    Schwarzweißaufnahmen von Jeanette und Susan, dreckige Knie, wie sie da in den Ecken kauern, winzige Hände vor die zugekniffenen Augen pressen, grelle Blitzlichter, die den Raum ausfüllen.
    Das erwachsene Grinsen und die Kinderaugen, dreckige Knie in Engelsgewändern, winzige Hände vor blutigen Löchern, weißes Gelächter, das den Raum ausfüllt.
    Ich sah einen nackten Mann mit einer Papierkrone auf dem Kopf, der unter der Erde kleine Mädchen vögelt.
    Ich sah seine Frau, die Engelskostüme schneidert und die Madchen mit Küssen beruhigt.
    Ich sah einen halbblöden polnischen Bengel, der Photos entwickelt und einige klaut.
    Ich sah Männer, die Häuser bauen, die kleine Mädchen beobachten, welche auf der anderen Straßenseite spielen, die sie photographieren und über die sie Notizen machen, die neue Häuser neben den alten errichten.
    Und dann sah ich wieder runter zu George Marsh, dem Vorarbeiter, der auf seinem Bett aus roten Rosen im Sterben lag.
    »George Marsh. Sehr netter Mann.«
    Aber das war immer noch nicht alles.
    Ich sah Johnny Kelly mit einem Hammer in der Hand, der seinen Job noch nicht erledigt hatte.
    Das war immer noch nicht alles.
    Ich sah einen Mann zwischen Papier und Plänen, zerfressen von dunklen Visionen von Engeln, der Häuser aus Schwänen entwarf und um Stille bettelte.
    Und noch immer war das nicht alles.
    Ich sah denselben Mann, der in einer düsteren Ecke hockte und schrie: »Tu es für mich, George, I CH WILL MEHR UND ICH WILL ES JETZT.«
    Ich sah John Dawson.
    Und das alles war zuviel, viel zuviel.
    Ich floh aus dem Raum zurück in den Tunnel, duckte mich, kroch weiter, suchte nach dem Schacht hoch zum Schuppen, die Schreie der Kinder in meinem Kopf:
    »Bevor die neuen Häuser da gebaut wurden, hatten wir eine hübsche Aussicht.«
    Ich kam zur Leiter, zog mich hoch, schrammte mir den Rücken an der Kante zum Schacht.
    Ich stieg hoch, hoch.
    Ich kam oben an und zog mich hoch in den Schuppen.
    Mrs. Marsh lag immer noch auf dem Bauch an die Werkbank gefesselt.
    Ich lag auf den Plastiksäcken, keuchte und schwitzte und hatte Angst.
    Sie grinste mich an, hatte Sabber am Kinn und eine nasse Strumpfhose.
    Ich packte mir ein Messer von der Werkbank und schnitt das Seil durch.
    Ich schob sie zum Kamin, riß ihren Kopf an der Dauerwelle nach hinten und hielt ihr das Messer an die Kehle.
    »Du gehst da jetzt runter.«
    Ich drehte
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