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19 Minuten

19 Minuten

Titel: 19 Minuten
Autoren: Jodi Picoult
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waren und einen ganz normalen Tag erwartet hatten, nicht Josie Cormier und ganz sicher nicht Peter. Gab es überhaupt ein Patentrezept? Vielleicht Liebe vermischt mit noch etwas anderem? Glück? Hoffnung? Vergebung?
    Plötzlich erinnerte sie sich daran, was Alex Cormier während des Prozesses zu ihr gesagt hatte: Etwas existiert weiter, solange sich jemand daran erinnert.
    Alle Welt würde sich an Peter wegen jener neunzehn Minuten in seinem Leben erinnern, aber was war mit den anderen neun Millionen? Die würde Lacy bewahren müssen, weil dieser Teil von Peter nur so am Leben erhalten werden konnte. Für jede Erinnerung an ihn, die mit einer Kugel oder einem Schrei zu tun hatte, würde sie zig andere haben: an den kleinen Jungen, der im Planschbecken herumtollte oder zum ersten Mal Fahrrad fuhr oder oben von einem Klettergerüst herunterwinkte. An einen Gutenachtkuss oder eine gemalte Karte zum Muttertag oder eine schräg singende Stimme unter der Dusche. Sie würde diese Erinnerungen aneinanderreihen - die Augenblicke, in denen ihr Kind genau wie das anderer Leute gewesen war. Sie würde sie jeden Tag ihres Lebens tragen wie kostbare Perlen, denn wenn sie die verlor, dann wäre der Junge, den sie geliebt und großgezogen hatte, tatsächlich für immer verschwunden.
    Lacy begann, das Bett wieder zu beziehen. Sie schüttelte das Kissen auf, breitete die Tagedecke darüber, strich sie glatt. Sie stellte die Bücher zurück ins Regal und legte den Kleinkram zurück in die Nachttischschublade. Zuletzt entrollte sie die Poster und hängte sie wieder an die Wände. Sie achtete darauf, die Heftzwecken in die alten Löcher zu stecken.
    Genau einen Monat nach seiner Verurteilung, als das Licht ge-dimmt worden war und die Aufseher einen letzten Kontrollrundgang gemacht hatten, griff Peter nach unten und zog seine rechte Socke aus. Er drehte sich im Bett auf die Seite, sodass er die Wand ansah. Er schob sich die Socke in den Mund, stopfte sie sich so tief in den Schlund, wie er nur konnte.
    Als er kaum noch Luft bekam, hatte er einen Traum. Er war noch immer achtzehn, aber es war der erste Tag in der Vorschule. Er trug seinen Rucksack und seine Superman-Lunchdose. Der orangegelbe Schulbus hielt an und öffnete mit einem Seufzer sein Drachenmaul. Peter stieg die Stufen hoch und schaute den Gang hinunter, aber diesmal war er der einzige Schüler, der mitfuhr. Er ging bis ganz ans Ende durch, nahe am Notausgang. Er legte seine Lunchdose neben sich und schaute aus dem Heckfenster. Es war so hell draußen, als jagte die Sonne selbst auf der Straße hinter ihnen her.
    »Gleich sind wir da«, sagte eine Stimme, und Peter drehte sich zum Fahrer um. Aber in dem Bus ohne Passagiere saß auch niemand am Steuer.
    Und das war das Erstaunliche: In seinem Traum hatte Peter keine Angst. Er wusste, dass er genau dorthin unterwegs war, wo er hinwollte.

6. März 2 oo8
    Die Sterling Highschool war kaum wiederzuerkennen. Sie hatte ein neues grünes Metalldach, einen jungen Rasen vor dem Gebäude und ein gläsernes Atrium, das sich am hinteren Ende der Schule zwei Stockwerke hoch erhob. Auf einer Tafel neben dem Haupteingang stand: EIN SICHERER HAFEN.
    Später am Tag würde es eine Gedenkstunde geben, um an diejenigen zu erinnern, die vor einem Jahr hier gestorben waren, doch da Patrick als Sicherheitsberater der Schule fungiert hatte, war es ihm möglich gewesen, Alex schon früher einzuschleusen, damit sie sich alles ansehen konnte.
    Drinnen gab es keine Spindschränke mehr, nur offene Fächer, damit niemand etwas verstecken konnte. Die Schüler waren im Unterricht, und in der Eingangshalle schlenderten nur ein paar Lehrer herum. Sie trugen Ausweiskarten um den Hals, ebenso wie die Kinder. Alex fand das eigentlich unsinnig - die Gefahr kam doch immer von innen, nicht von außen -, doch Patrick hatte gesagt, dass es den Leuten ein Gefühl von Sicherheit gab, und darauf kam es an.
    Ihr Handy klingelte. Patrick seufzte. »Ich dachte, du hättest denen gesagt -«
    »Hab ich auch«, sagte Alex. Sie klappte das Telefon auf, und die Sekretärin im Büro der Pflichtverteidiger von Grafton County begann, eine ganze Litanei von Notfällen herunterzurasseln. »Stopp«, unterbrach Alex sie. »Schon vergessen? Ich bin für heute untergetaucht.«
    Sie war als Richterin zurückgetreten. Josie war wegen Beihilfe zum Totschlag zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Danach hatte Alex gemerkt, dass sie nicht mehr unparteiisch sein konnte, wenn sie es mit
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