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1559 - Atlan und der Linguide

Titel: 1559 - Atlan und der Linguide
Autoren: Unbekannt
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Auges einen zweiten Hals mit einem zusätzlichen, sehr kleinen Kopf darauf. Die Bewußtseinszentren seiner beiden Schädel standen miteinander in Verbindung, arbeiteten jedoch nicht immer im Einklang miteinander.
    Darum konnte es geschehen, daß Liici-Pjee-Nyr bisweilen Dinge tat und Gedanken dachte, die so absurd waren, daß niemand sie vorhersehen konnte. Manche seiner Entscheidungen waren sogar so verrückt, daß auch Liici-Pjee-Nyr selbst sie nicht verstand.
    Nicht einmal in dem Augenblick, in dem er sie traf.
    Aber das konnte ihn offensichtlich nicht nachhaltig beunruhigen. Sein ganzes Leben war eine ständige Gratwanderung am Rand des Wahnsinns gewesen. Es war nicht anzunehmen, daß sich das jemals ändern würde.
    Liici-Pjee-Nyr war nicht bereit, sich dessen zu schämen.
    Ganz im Gegenteil: Er war stolz darauf.
    Liici-Pjee-Nyrs zweite hervorstechende Eigenschaft war die schier unglaubliche Arroganz, mit der er sich darauf versteifte, daß er das Glück für sich gepachtet hatte.
    Er konnte auf eine erstaunlich steile Karriere bei den Monkin zurückblicken. Er war sich jedoch dessen sicher, daß er das alles nicht ausschließlich aus eigener Kraft geschafft hatte.
    Natürlich hatte Liici-Pjee-Nyr bei seinem unaufhaltsamen Aufstieg auch sehr oft nach besten Kräften nachgeholfen - mit dem Messer zum Beispiel -, aber er war bei alledem felsenfest davon überzeugt, daß da noch mehr sein mußte.
    Irgendetwas war da und beschützte ihn.
    Und dieses Etwas hatte noch große Pläne mit Liici-Pjee-Nyr.
    Daran glaubte er.
    Nicht einmal die Tatsache, daß das Glück ihn momentan so offensichtlich verlassen hatte, konnte ihn auch nur um Haaresbreite von seiner Überzeugung abbringen.
    Mit anderen Worten: Liici-Pjee-Nyr hatte sich einen ganz eigenen, sonderbaren Glauben zurechtgezimmert, und er baute ihn unermüdlich immer weiter aus, indem er ihn allen sich verändernden Umständen anpaßte.
    Oder wie die Linguiden es ausdrückten: Liici-Pjee-Nyrs Individuelle Realität war von so ausgeprägt eigener Art, daß sie kaum noch Berührungspunkte zur Subjektiven Realität besaß.
    Unter der Subjektiven Realität verstanden die Linguiden die Ebene des materiellen Seins - die Wirklichkeit, wie andere Intelligenzen zu sagen pflegten. Die Individuelle Realität dagegen war die Ebene der Gefühle, der Ideen und des Glaubens - all jener Dinge, bei denen man getrost davon ausgehen konnte, daß jedes Individuum sie auf seine eigene Art und Weise erlebte.
    Die ganz besonders verdrehte Individuelle Realität des Liici-Pjee-Nyr war allem Anschein nach ein Grund dafür, daß die Linguiden am Bewußtsein dieses Bionten vorbeiredeten.
    Die Individuelle Realität war der Ausgangspunkt für das, was die Linguiden mit ihren Gesprächspartnern machten, wenn sie deren Meinung änderten. Wobei sie sich energisch gegen den Verdacht wehrten, daß dieses Verfahren in moralischer Hinsicht mehr oder weniger zweifelhaft sei.
    Sie benutzten ihre Fähigkeiten nicht dazu, anderen Intelligenzen ihren Willen aufzuzwingen.
    Stattdessen beendeten sie Streitigkeiten und sogar Kriege dadurch, daß sie den sich streitenden Parteien zu gegenseitigem Verständnis verhalfen. Denn Wesen, die Verständnis füreinander hatten, neigten meist nicht mehr dazu, sich gegenseitig umzubringen.
    In Bezug auf Liici-Pjee-Nyrs Verstand hätte sich wohl nicht einmal Atlan in negativer Weise dazu äußern mögen.
    Aber gerade bei Liici-Pjee-Nyr war selbst Aramus Shaenor geneigt, die Effektivität der linguidischen Methode anzuzweifeln, obwohl er zu denen gehörte, die besser als alle anderen damit umgehen konnten.
    Rein technisch gesehen war das, was Aramus Shaenor mit Liici-Pjee-Nyrs Verstand zu tun gedachte, ungefähr so zu erklären: Alle Lebensformen bedienten sich irgendeiner Art von Sprache, um sich in ihrer Realität zurechtfinden zu können. Die Grundlage jeder Sprache waren die Begriffe - sie stellten jene Mosaiksteine dar, aus denen sich jedes Wesen sein eigenes Bild von der Welt zusammensetzte.
    Nach linguidischer Lehre waren diese Mosaiksteine jedoch nicht flach, sondern sie waren mit Kristallen zu vergleichen.
    Die Oberflächen all dieser Kristalle bestanden aus einer Vielzahl von Facetten. Und jede dieser Facetten konnte dem an und für sich wertfreien Begriff, zu dem sie gehörte, eine andere „Farbe", also eine spezielle, individuelle Bedeutung, verleihen - so, wie zum Beispiel fast jedes Wort je nach der gegebenen Situation eine positive oder eine negative
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