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1250 - Die Raum-Zeit-Ingenieure

Titel: 1250 - Die Raum-Zeit-Ingenieure
Autoren: Unbekannt
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weit entfernt, daß die perspektivische Verzerrung sie in ein handtellergroßes Rechteck verwandelte, und jeder Laut erzeugte ein langanhaltendes, vielfach reflektiertes Echo.
    Myzelhinn zögerte.
    Die Leere und die Stille bedrückten ihn. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen! Wie lange hatte er diesen Teil der Letzten Bastion gemieden! Und nun - kurz vor der entscheidenden Begegnung mit den Rittern der Tiefe - war er zurückgekehrt ins Allerheiligste seines Volkes.
    Die Luft, die er atmete, weckte Erinnerungen in ihm, Erinnerungen an die Zeit der Größe, an die Zeit der Hoffnung, an tausend und tausend Gesichter, an Stimmen, die er seit Äonen nicht mehr gehört hatte, an Freunde, die längst den grauen Weg gegangen waren.
    Myzelhinn blickte zur Wand auf, und sein Herz krampfte sich zusammen, gepeinigt vom einzigen Schmerz, den ein Wesen wie Myzelhinn fühlen konnte, vom Schmerz, der in der Seele wohnte. In endlosen Reihen, nebeneinander und übereinander, hingen Bilderrahmen aus verstofflichter Vitalenergie an der Wand - Rahmen aus goldenem Licht, jeder vier Meter hoch, zwei Meter breit, einen Meter tief. Ebenso an den anderen Wänden; insgesamt 150000 Rahmen.
    Aber fast alle Rahmen ... waren leer.
    Langsam hob Myzelhinn den Kopf und sah hinauf zu jener Stelle, wo ein Farbtupfer zwischen den endlosen Reihen der leeren Rechtecke aufblitzte: ein Zeit-Porträt. Sein Blick glitt weiter, fand das zweite, das dritte, das vierte und schließlich das fünfte Porträt.
    Fünf, dachte Myzelhinn bedrückt. Fünf von hundertfünfzigtausend.
    Mit eiserner Willenskraft zwäng er sich, im Saal der Zeit-Porträts zu bleiben, statt seinem innersten Drang nachzugeben und zu fliehen.
    Stumm und von einer Traurigkeit erfüllt, gegen die nicht einmal Wesen wie er gefeit waren, hielt er den Blick auf den fünften Rahmen gerichtet, auf das vertraute Bild in goldener Fassung, auf das Porträt, vor dem er schon so oft gestanden hatte.
    Es war das Porträt eines verwachsenen, knapp einen Meter großen Humanoiden mit brauner, faltiger Haut, runzlig und verschrumpelt wie die Schale eines alten Apfels. Der Rumpf war schmächtig, schien kaum kräftig genug, die Last des großen, kahlen Kopfes zu tragen. Das Gesicht wurde von riesigen braunen Augen beherrscht, und diese Augen waren dunkel und tief wie Brunnenschächte.
    Die Nase und der Mund waren klein, verkümmert. Die schlenkernden Arme reichten bis zu den Knien der kurzen Beine, die unter dem Gewicht von Rumpf und Kopf krumm geworden waren; die Füße zehenlos, von dunklem Horn überzogen und auf clownesk anmutende Weise überdimensioniert.
    Seit Hunderttausenden von Tiefenjahren hing das Porträt an der Wand des Bildersaals hier im Herzen der Letzten Bastion, und in diesem unvorstellbaren Zeitraum hatte es sich ebensowenig verändert wie Myzelhinn.
    Das Porträt war dreidimensional, aber es war kein Hologramm; es war stofflich, aber es war keine Materieprojektion.
    Es war eine Sekunde aus dem Leben eines Wesens, dessen Dasein schon Milliarden Jahre währte, eine Sekunde der Wirklichkeit, aus dem Zeitstrom herausgeschnitten und in einem Rahmen aus Vitalenergie konserviert.
    Porträt und Porträtierter waren identisch. Zwei Ausgaben von ein und derselben Person, vom Abgrund der Zeit getrennt und hier durch eine Technik vereint, die die Naturgesetze zu ihren Werkzeugen gemacht hatte.
    Myzelhinn konzentrierte sich auf das Bild, und wie stets erfüllte es seine Bitte um ein Zwiegespräch.
    Das Porträt erwachte übergangslos aus tausendjährigem Schlaf. Der Schädel drehte sich, die großen, dunklen Augen begannen zu glänzen, und die schmalen Lippen öffneten sich. „Myzelhinn!" sagte das Porträt mit einer hohen, fast piepsenden Stimme. „Bist du es wirklich, Myzelhinn? Ich habe geträumt ... Viele Träume ... Wie lange, Myzelhinn? Wieviel Tiefenjahre sind seit deinem letzten Besuch verstrichen?"
    „Fast tausend Jahre", antwortete Myzelhinn.
    Tausend Jahre, Jahre, Jahre, wisperte das Echo, bis es sich schließlich in den Weiten des Gewölbes verlor. „Tausend!" stieß das Porträt hervor. Es sah nach rechts und links, nach oben und unten, sah aus seinem Rahmen zur gegenüberliegenden Wand, zu den goldgefaßten leeren Rechtecken, die sich lückenlos aneinanderreihten, vom Boden bis hinauf zur hohen Decke, von der äußersten rechten bis zur äußersten linken Seite. Rahmen, aber keine Bilder. „Nildefin!" schrie das Zeit-Porträt verzweifelt. „Wo ist das Bildnis Nildefins? Wo ist
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