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1227 - Verschollen im Mittelalter

1227 - Verschollen im Mittelalter

Titel: 1227 - Verschollen im Mittelalter
Autoren: Pete Smith
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herbeirief.
    Levent war aufgewacht. »Wo bin ich?«, murmelte er, als sich Nelson über ihn beugte. »Du bist doch…« Aber er war zu schwach, um den Satz zu Ende zu sprechen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, entglitt er jeder weiteren Frage.
    Schwester Clothilde hielt seinen Kopf in ihrem Schoß.
    »Schlaf, mein Junge«, sagte sie sanft und strich ihm übers Haar. »Alles wird gut.«

25
     
     
     
    Die folgenden Stunden erlebte Nelson wie in Trance. Vielleicht lag es an seiner zunehmenden Müdigkeit oder an den Auswirkungen seiner verzweifelten Kraftanstrengung, als er Levent aus dem Feuer gezerrt hatte. Vielleicht war es auch die Angst, die allmählich von ihm abfiel und ein Gefühl gähnender Leere hinterließ. Jedenfalls geschah all das, was er in jener Nacht vom 21. auf den 22. August des Jahres 1227 noch zu vollenden gezwungen war, mechanisch, von seinem Unterbewusstsein gesteuert, während er sich gleichzeitig von außen dabei zusehen konnte wie einem Fremden.
    Sie betteten Levent in einen Karren, den ihnen die Stadtbewohner demütig überließen. Ein Medicus hatte zuvor nach ihm gesehen, seine Wunden gesäubert und die Brandblasen mit einer kühlenden Salbe bestrichen. Schwester Clothilde blieb bei dem Bewusstlosen, während Nelson, Luk und Severin auf dem Bock Platz nahmen und das Gespann durch die schweigende Menge lenkten. Für diese Menschen würde die Welt nie wieder so sein, wie sie vor dieser Nacht gewesen war. Der teigige Mönch, dessen Namen Nelson nie erfahren sollte, hatte seine Macht endgültig verspielt. Und auch an Alpais würde man sich fortan nur noch als jemanden erinnern, der von einem blinden Magier besiegt und als Paket verschnürt zurückgelassen worden war.
    Gleichwohl würde das den verheerenden Siegeszug der Inquisition, als deren erste Verfechter sich der namenlose Mönch, Notker und Alpais gefallen hatten, nicht aufhalten. Hunderttausende unschuldiger Menschen würden in den kommenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen enden – weil sie Juden waren, Frauen, Geisteskranke oder schlicht Andersdenkende. Man würde sie Ketzer, Häretiker, Renegaten, Antichristen, Höllenhunde, Teufel oder Hexen nennen und im Namen eines zweifelhaften Gottes verbrennen. Der Willkür wehrlos ausgeliefert würden sie keine blauen Blitze schleudern können, sondern in den Flammen ihrer Peiniger qualvolle Tode sterben.
    Als sie Judith und Adiva endlich in die Arme schlossen, glichen Nelson, Luk, Severin und Lioba weniger jenen strahlenden Helden, die sie eigentlich waren, als vielmehr einem Häuflein müder, abgekämpfter Krieger, denen nicht zum Feiern zumute war und die nur eines wollten – schlafen, endlich schlafen!
    So legten sie sich denn ins weiche Moos und ließen einfach los. Bleiern und traumlos dämmerte Nelson die wenigen Stunden zum Morgen dahin, bis die Sonne über den Rand des Horizonts blinzelte und ihn ihre ersten Strahlen in die Welt zurückholten.
    Die anderen schliefen noch. Nur Severin hockte an einen Baum gelehnt auf einer Wurzel und genoss die Wärme des angehenden Tages.
    Nelson gesellte sich zu ihm.
    »Wir hätten uns früher begegnen sollen, mein Freund«, begrüßte ihn der Blinde. »Dann hätten wir diesen Anblick vielleicht gemeinsam erleben dürfen.«
    Statt einer Antwort ergriff Nelson Severins Hand und drückte sie. Die Haut war dünn wie Pergament.
    »Irgendwann müssen wir alle sterben«, sagte der Alte, der in Nelson las wie in einem Buch. »Seltsam, dass du als Wanderer durch die Zeit zwar die Möglichkeit erhältst, bei meiner Geburt und meiner letzten Ölung zugegen zu sein, es dir aber nicht gestattet ist, dein eigenes Werden und Vergehen zu erleben. Findest du nicht?«
    Nelson hatte selbst schon darüber nachgedacht, warum das so war. Die Gesetze der Physik und der Logik bestimmten nur die Grenzen, boten aber keine befriedigende Erklärung.
    »Vielleicht will Gott sein letztes Geheimnis lieber für sich behalten«, antwortete Severin statt seiner.
    Nelson dachte darüber nach. Die Geburt des Lebens als Gottes letztes Mysterium… Würde eine spätere Zivilisation auch dieses Geheimnis entschlüsseln?
    Als die Sonne die Wipfel der Bäume erreicht hatte, brachen die Freunde auf. Levent war endlich aufgewacht. Er klagte zwar über brennenden Durst, bestand aber darauf, aufzustehen.
    Nelson vermutete, dass er nach wie vor große Schmerzen hatte. Aber Levent biss die Zähne aufeinander und ließ sich nichts anmerken.
    Unterwegs berichteten
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