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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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ihnen innerhalb der Mauern der vergangenen Monate, im Joch der Stunden, in der Strenge und Ödnis der in Tossicia empfangenen Befehle begegnet war. Diese Männer, die sie da vor sich hatten, die sie auf ihrer Flucht begleiten und sie vielleicht in Gefahr bringen würden, sie verstanden sie nicht richtig, sie konnten nicht ermessen, wie tief die Brunnen ihrer Leben waren, aber es waren Worte, Gesten, Sinnfetzen von ihnen ausgegangen und hatten sie erreicht, die, wie man sie auch drehte und wendete, ihre Befürchtungen und ihren Argwohn milde stimmten. Sie hatten ein paar schweigsame, eigensinnige Männer in zerknitterten Bauernkleidern vor sich, deren Entschlossenheit und deren Worte von großer Schlichtheit waren. Das war es, was ihnen diesen Respekt abnötigte und was ihnen half, sich noch ein bisschen freier zu fühlen.
     
    Der Weg nach Ara Martese war für jemanden, der sich in der Region auskannte, nicht besonders weit. Wer hier fremd war, hätte sich sicherlich verirrt, aber weder die Zigeuner noch die Chinesen waren in den Abruzzen fremd. Sie kannten deren Geruch und die Blässe der Schatten darin, und sie hatten deren wiederkehrende Rhythmen in sich aufgenommen. Ihnen war nicht klar gewesen, wie sehr die Abruzzen sich ohne ihr Wissen, allmählich, Monat für Monat in ihnen abgelagert hatten, durch all die Worte, die sie anfangs nicht verstanden, dann aber nach und nach gezähmt hatten. Durch die Farben, die unzähligen Weißtöne des Winters. Durch die Rhythmen der Transporte, die Frequenz des Kommens und Gehens. Eine schweigende Geographie war entstanden. Die Städte, von denen oft die Rede war, diejenigen, deren Name so gut wie nie fiel. Die, welche vor Teramo, und die, welche dahinter lagen. Das Dorf, das immer im Zusammenhang mit einem anderen erwähnt wurde. Die Achsen, die Umwege, die Dörfer, welche bei Schnee nicht zugänglich waren. Die Abruzzen waren in jedem Moment, als in ihrem Beisein von der Umgebung die Rede gewesen war, in sie eingedrungen. Und jetzt entfalteten sie sich. Die Laga-Berge, diese Verabredung am Ausgang eines kleinen Weilers, dieses geflüsterte Ziel mochte noch so winzig sein, es war ihnen dennoch ein Begriff. Raum und Zeit fanden wieder zueinander und nach der Zeit wurde ihnen auch der Raum wiedergegeben. Ihr Marsch war die Begegnung mit einer anderen Schreibweise der Realität. Monatelang hatte die Region aus dem bestanden, was sie aus ihren Unterhaltungen hatten ableiten können, nun war sie diese Bäume, diese Sandwege, diese Pfade. In einem feinen, teilweise von den Blättern abgefangenen Sprühregen lernten sie eine neue, konkrete Erscheinungsform dieser Region kennen, die zu ihnen kam und sie überraschte und sich zu dem Universum der Worte gesellte, die sich in ihnen versteckt hatten, und sich nach und nach an deren Stelle setzte. Die fiebrige, gefährliche Freiheit dieser Flucht war ein Strudel, in dem der Raum der Worte unablässig den Raum gebar, der sie umgab. Somit war es im wahrsten Sinne eine Niederkunft, durch die sie in der Vorstellung belassen wurden, dass es von ihnen ausging, von der Summe ihrer Ängste und Träume und von allem, was sich irgendwo in ihnen dem Eingesperrtsein widersetzt hatte. Der Baum trat an die Stelle des Wortes Baum und bestätigte das lange ganz unbekannte Anderswo. Es war wie eine Liebkosung und zugleich wie eine Kraft. Diese Energie, die sie lange Zeit in sich getragen hatten und die sich nun vor ihren Augen entlud und dabei zu Feldern und Wegen wurde, das war das Überschreiten jener Schwelle, diesmal in umgekehrter Richtung. Die Rückkehr. Also schlugen sie die richtigen Wege ein. Sie machten mehrmals Rast, denn je näher sie kamen, umso deutlicher spürten sie den Krieg und seine neuen Kleider. In dem allgemein herrschenden Durcheinander zogen hundert Menschen oder so, Zigeuner und Chinesen, geradewegs durch die Wälder. Nach ein paar Stunden Marsch erreichten sie schließlich das Lager der Partisanen. Es lag inmitten eines Waldes und hatte sogar auf den Namen des Ortes abgefärbt.
     
    Zu diesem Zeitpunkt hatte Bosco Martese, denn so sprach man hier davon, bereits stattgefunden. An diesem 26 . September 1943 war die Geschichte dieses Sammlungsortes, den sie nun erreichten, bereits zum größten Teil geschrieben. Bald würden sie die Chronologie davon erfahren: Hier kehrten sie zurück in die Welt, in der die Tatsachen sich aneinanderreihen und, wenn etwas Denkwürdiges geschieht, aufgeschrieben werden. Sie ließen die Zeit, die
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