0994 - Unheil über Shortgate
Albert Sackett verließ die Kabine. Er fand sich in einem breiten Gang wieder. Wie auf einem Schiff war an beiden Wänden ein Geländer angebracht worden, an dem sich die Besucher festhalten konnten.
Auch Albert Sackett nahm an diesem Abend die Stütze in Anspruch. Das Licht reichte aus, um jede Falte im Teppichboden erkennen zu lassen. Weiter vorn ihm Gang war eine Deckenleuchte nicht mehr in Ordnung; sie flackerte.
Er blieb vor seiner Zimmertür stehen und traute sich noch nicht, die Klinke zu drücken. Dabei wußte Albert selbst nicht, was ihn störte, äußerlich gab es nichts, es war einfach nur das Vorwissen, das ihn so reagieren ließ.
Er mußte sich einige Male räuspern. Dabei schaute er sich um. Der Gang war und blieb leer. Es stand niemand in der Nähe, der ihn heimlich beobachtete.
Sackett gab seinem Herzen einen Stoß. Er öffnete die Tür und war froh, daß die Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett erleuchtet war. Er haßte es einfach, in ein dunkles Zimmer zu treten.
Mit langsamen Schritten ging der alte Mann weiter. Er durchsuchte den Raum, aber es hatte sich nichts verändert. Die Möbel standen da, wo sie immer gestanden hatten, auch die Glotze hatte man nicht weggeholt. Das Bett war aufgeschlagen.
Eine zweite Tür führte ins Bad, wo sich auch die Toilette befand. Dort ging Sackett hin.
Der Raum war klein, quadratisch, aber er reichte aus. Niemand hielt sich dort versteckt. Nur konnte sich Albert jetzt im Spiegel sehen, und er erschrak über seinen eigenen Anblick.
Alt war er bereits, doch er kam sich vor wie jemand, der in den letzten Stunden noch älter geworden war. Seine Haut hatte sich verändert. Sie sah aus, als wäre sie zusammengefallen, um sich danach nach unten zu drücken, denn sie hing rechts und links des Kinns einfach herab, ähnlich wie bei einem Hamster.
Tiefe Ringe lagen unter den Augen, wie in die Haut hineingedrückt. Die Augen sahen müde aus. In den Pupillen lag kein Glanz mehr. Der Blick war stumpf geworden, so schrecklich leer. Auch wirkte er verloren, als hätte sich der Mann, dem die Augen gehörten, schon längst aufgegeben. Und irgendwo stimmte das ja auch. Albert hatte in den letzten Tagen und Wochen Kraft gelassen, denn er wußte sehr deutlich, daß da etwas Schlimmes auf ihn zukam.
Er trat noch näher an den Spiegel heran, um sich deutlicher sehen zu können. Er dachte dabei, daß nur ein Masochist so reagieren konnte, aber das war ihm egal.
Als er mit dem Bauch gegen den Rand des Waschbeckens stieß und sich nun sehr deutlich selbst erkannte, da bemerkte er auch, daß die Augen feucht geworden waren.
Albert weinte.
Aber er weinte lautlos. Die Tränen waren durchsichtige Perlen, die an seiner faltigen Haut entlangliefen und ihren Weg durch die Rillen und Einkerbungen nahmen. Das Haar war zu lang. Es wuchs bereits über den Kragen hinweg.
Auch das störte ihn nicht mehr. Albert wußte, daß dies nicht mehr wichtig war.
»Sarah!« flüsterte er seinem Spiegelbild zu. »Sarah, ich möchte, daß du kommst und trotz allem versuchst, mich hier rauszuholen. Nichts anderes will ich noch.«
Aber keine Sarah Goldwyn hörte ihn, und das wußte auch der einsame alte Mann, der sich jetzt wieder umdrehte und mit schlurfenden Schritten zurückging.
Sein Zimmer war seine Welt. Hier kannte er sich aus, aber er fühlte sich nicht wohl.
Gefangen im Luxus, dachte er, als er sich in dem bequemen Sessel niederließ.
Hier lag die Fernbedienung genau in Reichweite. Aber er wollte nicht in die Glotze schauen, er wollte es auf keinen Fall. Das war nichts, das war einfach nur…
Seine Gedanken brachen ab. Er holte tief Luft und stöhnte dabei leise auf.
Der Sessel stand günstig. Von hier aus konnte er den Kontakt zur Außenwelt durch das Telefon aufnehmen. Den Gedanken verband er wieder mit Sarah Goldwyn und dachte darüber nach, die Freundin anzurufen, als ihn das Surren des Apparats erschreckte. Es war nicht das neue Geräusch, mit dem sich der Apparat meldete, sondern das helle Klingeln, aber er hatte es so leise gestellt, daß nur ein Schnarren an seine Ohren drang.
Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn. Plötzlich geriet er sogar ins Schwitzen.
Nach dem vierten Läuten erst bewegte er seine Hand auf den Hörer zu und hob ab.
Albert Sackett kam nicht dazu, den eigenen Namen auszusprechen, denn der Anrufer war schneller.
Ob es ein Mann oder eine Frau war, die mit ihm sprach, war für Albert nicht herauszuhören. Er vernahm nur die Flüsterstimme, und die breitete sich
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