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0941 - Das unheile London

0941 - Das unheile London

Titel: 0941 - Das unheile London
Autoren: Adrian Doyle
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hatte das Licht auf dem Gang nicht angeknipst. Es war nicht nötig, weil die Buchstabenwolke ausreichend Helligkeit verströmte. Die Wolke, die schon auf halber Strecke die Treppe hinauf schwebte und keinen Zweifel daran ließ, wohin sie Sam lenken wollte.
    Der Dachboden.
    Was sollte das?
    Es mochte wildromantische Dachböden geben, vor allem in Filmen oder Romanen, aber dieser hier war nichts weniger als wildromantisch. Unaufgeräumt, chaotisch, dreckstarrend und spinnwebenverseucht, ja - aber romantisch?
    Maya schüttelte sich, wenn sie nur daran dachte. Sie eilte auf Sam zu. »Liebling!« Aber zum ersten Mal kamen ihr Zweifel, ob sie nicht doch alles nur träumte. Denn je schneller sie meinte zu laufen, desto zäher kam sie voran. Sam schien sie bemerkt zu haben, denn er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Sein Gesicht war seltsam traurig, melancholisch, fast wirkte er selbst wie ein Geist, als er den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte und langsam mit dem Aufstieg begann, dem Menetekel folgend.
    Trotz der unsichtbaren Gewichte, die an ihr zerrten und sie festzuhalten trachteten, heftete sich Maya unbeirrt an seine Fersen.
    Ob Traum oder nicht - verdammt, sie liebte diesen unmöglichen Kerl und wollte ihm immer und überall beistehen!
    ***
    Stufe um Stufe dem Ziel entgegen.
    Welchem Ziel? Wohin tragen mich meine Beine?
    GEH MIT UNS, wisperte es unentwegt in seinen Hirnwindungen. Weitere Buchstaben hatten ihn nicht mehr berührt. Der Schwarm hielt respektvollen Abstand. Oben brach er wieder durch eine Tür, ohne ihr den kleinsten Kratzer beizubringen.
    Für einen Moment wünschte Sam, dass es auch für ihn keine Barrieren gäbe. Hinter ihm war Maya. Hätte es sie beeindruckt, wenn er durch geschlossene Türen und Wände hätte gehen können?
    Vermutlich.
    Und wollte er sie beeindrucken?
    Aber ja!
    Er versuchte es. Es war ein Spontaneinfall. Es war verrückt - er war verrückt -, aber es überkam ihn einfach. Übermut? Oder völliger Realitätsverlust?
    Es war ihm egal.
    Er erreichte die Tür am Ende der Stiege, und statt anzuhalten, den Knauf zu drehen und die Tür aufzustoßen, um über die Schwelle treten zu können, machte er es wie die Phantombuchstaben - er ging einfach weiter, ohne auch nur einen Moment innezuhalten und den Riegel zurückschnappen zu lassen.
    Reflexartig schloss er die Augen, als die Nase nur noch eine Millisekunde vom Zusammenprall mit dem Hindernis entfernt war.
    Autsch! Es würde wehtun. Es würde…
    Er machte die Augen auf, nachdem er ein, zwei Schritte weitergegangen war.
    Er sah keine Tür mehr, befand sich bereits auf dem Dachboden. Staubgeruch umwogte ihn wie graue Asche im Schein der schwebenden Glyphen. Sie hatten sich in den hintersten Winkel des Speichers zurückgezogen. Ihr unwirkliches Licht holte die Schattenrisse unzähliger Gegenstände aus der Finsternis; all diese Dinge waren irgendwann aus dem Alltag aussortiert worden und hier gelandet. Aus den Augen, aus dem Sinn.
    Sam blieb kurz stehen. Eine nie zuvor verspürte Form der Beklemmung legte sich um seine Kehle. Er hatte das Gefühl, nicht mehr genügend Luft zu bekommen. Angestrengt rang er nach Atem. Seine sich wölbende Brust sprengte unsichtbare ketten. Er hörte die knöcherne Umklammerung förmlich bersten. Danach konnte er wieder normal atmen.
    Erleichtert setzte er seinen Weg fort. Seine Zehen, Knie und Schienbeine stießen immer wieder gegen irgendwelche abgestellten Dinge; alte Stühle, Kommoden, Spiegel, Tischchen, protzig gerahmte Bilder, deren Motive im Dunkel verborgen blieben, Statuen, Kerzenständer, eine alte mechanische Nähmaschine mit gusseisernem Schwungrad, eine Uhr, deren Zeiger fast so groß wie die von Big Ben zu sein schienen - auch wenn das natürlich Einbildung war - und Dutzende, Hunderte Gegenstände mehr. Strandgut der Vergangenheit. Das meiste stammte noch von Sams Eltern oder sogar Großeltern, an die er sich nur schwach erinnern konnte. Sie waren schon alt gewesen, als Sam zur Welt gekommen war. Er erinnerte sich nur, dass sein Vater ihm erzählt hatte, sie seien eines Tages zu einer großen Reise aufgebrochen, von der sie nie zurückkehrten. Konkreter war er nicht geworden, und wann immer Sam später einmal die Sprache darauf brachte, war er ausgewichen, hatte nichts Näheres darüber preisgeben wollen.
    Im Nachhinein und vor allem jetzt, seit die Buchstabenphantome erschienen waren, fürchtete Sam, dass seinen Großeltern etwas ähnlich Dramatisches und Unerklärliches
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