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0910 - Der Totflüsterer

0910 - Der Totflüsterer

Titel: 0910 - Der Totflüsterer
Autoren: Oliver Fröhlich
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vorgehalten, er liebe seine skurrilen Skulpturen mehr als sie - und er hatte nicht einmal widersprechen können!
    Egal! Warum sollte er sich durch das Getöse des Ehefrauengekeifes die Laune verderben lassen, wenn er stattdessen die Ruhe der Inspiration in diesem Raum genießen konnte?
    Er löste den Blick von einem Gemälde, auf dem sich streng geometrische Figuren und formlose bunte Kleckse einen Wettstreit um die Aufmerksamkeit des Beobachters lieferten, und widmete sich dem Gegenstand, der daneben an der Wand hing.
    Von den wenigsten Objekten konnte Pereire bisher sagen, was sie bedeuten sollten, doch dieser Gegenstand war der geheimnisvollste von allen. Bei all den Bildern, Figuren, Masken oder Statuetten konnte man wenigstens erkennen, dass es Bilder, Figuren, Masken oder Statuetten waren. Bei diesem Objekt allerdings war Pereire selbst damit überfordert. Es sah aus wie ein Stück Leder, das auf zwei leicht geschwungene Stöcke gespannt war, die zwei Seiten eines Dreiecks bildeten. Das Dreieck hatte eine Höhe von knapp einem Meter und an der Basis eine Breite von vielleicht achtzig Zentimetern. Auch im Leder verliefen weitere ähnliche Stöcke. Das Ding erinnerte Pereire von der Form her an den gebogenen Schnabel eines Adlers, nur viel größer.
    Was hatte Clement Luynes sich wohl dabei gedacht, dieses merkwürdige Teil seiner Sammlung einzuverleiben? Vermutlich war es ihm hier weniger um die künstlerische Aussage gegangen, als um die Einzigartigkeit des »Adlerschnabels«. Denn soviel Pereire wusste, hatte auch Luynes zu Lebzeiten nie klären können, was dieses Lederding eigentlich war. Und das, obwohl er es schon vor vierzig oder fünfzig Jahren bekommen hatte.
    Ein Zucken lief wie eine Welle durch das Leder!
    Pereire fuhr zusammen und trat einen Schritt zurück.
    Hatte er das gerade tatsächlich gesehen? Nein, das war unmöglich! Er musste sich getäuscht haben.
    Oder ein Luftzug hatte die Oberfläche getroffen und sie bewegt.
    Luftzug! So ein Blödsinn! Wo sollte in einem voll klimatisierten Raum mit geschlossenen Türen und Fenstern ein Luftzug herkommen?
    Aber er hatte sich nicht getäuscht. Da war es wieder! Ganz eindeutig. Dieses… dieses… dieses was auch immer hatte schon wieder gezuckt.
    Wie gebannt starrte Pereire auf das Lederstück.
    Es blieb nicht bei der kleinen Bewegung. Aus dem Zucken und Kräuseln wurde ein sanftes Schlagen, daraus ein Ziehen und Zerren.
    Das Ding versuchte, sich aus seinen Halterungen zu reißen. Es wollte sich aus seinen Fesseln befreien! Aber das war unmöglich! UNMÖGLICH!
    Eine leise Stimme im Hinterkopf flüsterte ihm zu, dass dies der Moment sei, in dem er sich besser umdrehen und davonlaufen sollte, doch Pereire rührte sich nicht. Seine Augen weiteten sich in Unglauben.
    Er sah, wie das Lederding immer heftiger gegen seine Fesseln ankämpfte und wie es schließlich eine der drei Halterungen aus der Wand riss. Er hörte, wie der Metallhaken an seinem Ohr vorbeipfiff. Er fühlte, wie der Haken es dabei noch streifte und sofort Blut aus der Wunde rann.
    Er sah, er hörte, er fühlte. Dennoch weigerte sich etwas in seinem Verstand, auch zu glauben! Im Rhythmus seines pochenden Herzens hämmerte immer wieder das gleiche Wort durch sein Hirn.
    Unmöglich! Unmöglich! Unmöglich!
    Die zweite Halterung löste sich, schoss auf eine Vase zu und verwandelte das Lächeln des goldenen Gesichts darauf in eine splitternde Grimasse.
    Noch immer konnte Pereire sich nicht bewegen. Seine Füße fühlten sich an, als steckten sie in einem Sumpf. Sein Herz glich diese Bewegungslosigkeit dadurch aus, dass es wild zu rasen begann!
    Unmöglichunmöglichunmöglich!
    Der dritte Metallhaken löste sich aus der Wand und schlug mit einem dumpfen Pochen aufs Parkett. Eigentlich hätte der Lederfetzen nun zu Boden fallen müssen. Das geschah nicht! Er schwebte nur wenige Millimeter von der Wand entfernt in der Luft.
    Nein! , gellte es durch Pereires Hirn. Das kann nicht wirklich passieren!
    Der Adlerschnabel aus Leder drehte sich so, dass seine Spitze auf Pereires Brust zeigte. Für einen Augenblick verharrte er in dieser Stellung. Gerade lange genug, dass Edouard Pereire voller Entsetzen erkennen konnte, was als Nächstes geschehen würde.
    Oh mein Gott! Bitte nicht! Ich träume. Denn das hier ist völlig unmöglichunmöglichunmög…
    Das Lederding raste auf ihn zu, bohrte sich mit der Schnabelspitze durch das Hemd in den Brustkorb, grub sich in den Oberkörper und verschwand.
    Die
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