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0866 - Rattennacht

0866 - Rattennacht

Titel: 0866 - Rattennacht
Autoren: Jason Dark
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dem jüdischen Teil des Père Lachaise.
    Ich blieb nachdenklich stehen. »Das müßte es sein«, sagte ich zu den beiden. »Ich kann mir vorstellen, daß sich unser Freund dort aufhält.«
    »Warum?« fragte Shao.
    »Wegen seines Namens. Ist Absalom nicht jüdisch?«
    »Sehr sogar.«
    »Genau.«
    Plötzlich gab es wieder Hoffnung für uns. Das war es doch. Der jüdische Teil des Friedhofs mit seinen anderen Grabsteinen, wo keine Kreuze zu sehen waren, auch nicht der große Pomp, sondern alles etwas schlichter gebaut war.
    »Ratten!«
    Shao hatte diesmal gerufen.
    Sie stand geduckt da, den Arm ausgestreckt. So deutete sie auf eine Buschwand, die zudem noch einen Schatten warf, vor dem die Tiere herhuschten.
    Das waren Ratten und keine Eichhörnchen. Sie sahen uns nicht oder wollten uns nicht sehen. Ich hatte fünf sich auf dem Boden bewegende Schatten gezählt, die hintereinander herliefen, als hätten sie dies in einer Armee geübt.
    Wer sich so bewegte, der mußte ein Ziel haben. Und ihr Ziel war auch das unsere.
    Leider hatten wir sie schnell wieder aus den Augen verloren, doch wir gingen davon aus, daß sehr bald schon andere Ratten unseren Weg kreuzen würden.
    Noch tat sich nichts dergleichen. Wir gingen auch nicht weiter, blieben erst einmal stehen, um zu lauschen.
    Wo hielten sie sich versteckt?
    Es gab genügend Deckung in unmittelbarer Nähe. Büsche, Grabsteine und Erdwälle.
    Wir sahen die Nager nicht, aber wir hörten sie.
    Fremd klingende Geräusche erreichten unsere Ohren. Rascheln, kratzen und trippeln. Hin und wieder auch ein kurzes, schrilles Fiepen, das klang, als wäre ein Mensch dabei, unter Schmerzen zu leiden, die er nicht mehr unterdrücken konnte.
    Dann war es wieder still.
    Eine Ratte lief uns beinahe über die Füße. Sie war von der Rückseite gekommen. Genau zwischen mir und Suko huschte sie hindurch, auch an Shao vorbei, aber sie sprang keinen von uns an.
    Dann war sie weg.
    Suko nickte. »Die Richtung steht fest. Wir haben gesehen, daß sich alle nur in eine bestimmte Richtung bewegt haben. Wie ich diesen Absalom einschätze, hat er sie gerufen.«
    »Wir sollten bald bei ihm sein«, sagte ich, »sonst könnten es auch für uns zu viele Tierchen werden…«
    Ich erntete keinen Widerspruch. Wir machten uns auf den Weg. Diesmal allerdings mit anderen Gefühlen. Zumindest waren wir etwas hoffnungsfroher geworden…
    ***
    Absalom saß auf der Grabplatte und spielte mit den totenbleichen, abgenagten Knochen. Sie kamen ihm vor, als hätten sie das Mondlicht in all der Zeit eingefangen, in der sie im Freien gelegen hatten.
    So bleich waren sie und auch so spröde.
    Hin und wieder prallten sie zusammen. Dabei erklang jedesmal ein hohl klingendes Klackern, als hätte jemand irgendwelche Würfel über eine Marmorplatte gerollt.
    Alles war so gleich geblieben, und trotzdem war für ihn alles anders geworden.
    Absalom zweifelte. Wie war er sich sicher gewesen, beinahe unbesiegbar zu sein, das war nun vorbei. Nichts paßte mehr. Er schwamm in einem See ohne Grund und Ufer. Es war sein Leben. Dieser See waren die Jahre, die hinter ihm lagen, die Jahre, die… Nein, das ging nicht.
    Er konnte sich nicht daran erinnern, jünger gewesen zu sein, geschweige denn ein Kind. Er war schon immer so gewesen wie jetzt, aber dafür mußte es einen Grund geben.
    Absalom zermarterte sein Gehirn. Wie er es auch drehte und wendete, er kam damit nicht zurecht.
    Er war ein Mensch ohne Vergangenheit. Er mußte aus dem Nichts erschienen sein, und würde womöglich wieder im Nichts verschwinden. Die einzigen Freunde an seiner Seite waren die Ratten.
    Auf sie konnte er sich verlassen. Zu ihnen bestand eine Verbindung. Da hatte er - oder waren es andere - eine Brücke geschlagen. Nur - wen oder was mußte er sich unter den anderen vorstellen? Er kannte den normalen Begriff Eltern zwar, doch es gab nichts, nach dem er greifen konnte. Er streckte die Arme aus, um seine Vergangenheit zu fassen, die nicht vorhanden war.
    Es gab sie nicht.
    Leere, Kälte!
    Wie in ihm.
    Plötzlich fror er trotz der dicken, schwülen und sonderbar riechenden Luft, die den Friedhof »belagerte«. Er umarmte sich selbst wie jemand, der sich besonders liebte. Ein Gefühl, das er sich selbst nicht erklären konnte, durchdrang ihn. Es war wie ein Fluß aus zahlreichen Schatten, die auch sein Denkvermögen beeinträchtigten. Sie erreichten sein Gehirn, stopften es aus, aber die Kälte bekam er nicht weg. Sie blieb darin kleben wie dicker, widerlicher
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