Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0866 - Die Herrin der Raben

0866 - Die Herrin der Raben

Titel: 0866 - Die Herrin der Raben
Autoren: Christian Schwarz
Vom Netzwerk:
achtundzwanzigjährigen Amerikaner zu. »Das war richtig unheimlich, nicht wahr, Jerry? Mir pocht noch immer das Herz.« Sie presste beide Hände auf die linke Brust. »Doch, es pocht sogar schrecklich. Wollen Sie mal fühlen?«
    Er wand sich unbehaglich. »Ich glaube es Ihnen auch so, Amber.«
    »So? Wie schade.« Sie kicherte albern. »Wissen Sie, Jerry, ich kam gerade aus der Kaisergruft, da hat sich so ein Biest direkt vor mich hingesetzt und mich so komisch angesehen. Als ob es klug wäre. Ich hatte das Gefühl, es mag mich nicht und will über mich herfallen. Klar, es klingt lächerlich. Aber ich dachte das wirklich.«
    Jerry Kretchmer nickte nachdenklich. Komisch, dass Amber dies sagte. Sein Eindruck war ein ganz ähnlicher gewesen.
    »Ich wusste gar nicht, dass es so viele Raben in Wien gibt«, plapperte Amber Haggerman weiter und nippte an ihrer Melange. »Das ist ja eine richtige Plage. Noch viel schlimmer als die Tauben.«
    Jerry Kretchmer zog die Schultern hoch. Er konnte das Ereignis nach wie vor nicht richtig einschätzen. Wien war wirklich nicht dafür bekannt, unter einer Rabenplage zu leiden. Das wusste er genau. Andererseits hatte er erst neulich gelesen, dass bei den Rabenvögeln langsam aber sicher eine Verlagerung des Lebensraums hin zur menschlichen Zivilisation stattfand.
    Er seufzte. Nun, dergleichen Dinge kamen immer mal wieder vor, man musste sie nicht überdramatisieren. Wer wusste schon, was die Raben bewogen hatte, sich in Heeresstärke zusammenzuschließen und Wien einen Besuch abzustatten. Trotzdem blieb ein seltsames Gefühl. Denn Jerry Kretchmer war absolut sicher, dass sich die schwarzen Vögel zwar über den ganzen Neuen Markt verteilt, sich aber doch ganz eindeutig massiert hatten.
    Und zwar über dem Kapuzinerkloster.
    ***
    Bruder Claudius warf sich schweißüberströmt auf seinem Bett hin und her. Die Augen unter den geschlossenen Lidern rollten wild. Er murmelte unverständliche Worte, stöhnte dazwischen und verzerrte sein Gesicht immer wieder, als litte er starke Schmerzen.
    Einen derart intensiven Traum hatte er noch niemals zuvor erlebt. Eine milchigweiße, wabernde Fläche breitete sich vor dem Zisterziensermönch aus. Sie zog sich plötzlich zusammen und verdichtete sich in der Mitte. Daraus schälte sich eine Kontur, nur schwach wahrnehmbar, dunkel, an den Rändern zerfasernd. Als sie sich stärker manifestierte, erkannte Bruder Claudius ein altes Gesicht. Bärtig, mit schütterem, wirrem Haar, schlechten Zähnen und hässlichen Narben auf Wangen und Stirn. Ohne zu ahnen, woher ihm diese Weisheit zufloss, wusste er, dass Bruder Franziskus zu ihm zu sprechen versuchte. Ein Bruder, der schon vor einigen hundert Jahren gestorben war.
    Dem toten Mönch war die Anstrengung, die diese Kontaktaufnahme kostete, deutlich anzusehen. Verzweifelt versuchte er sie aufrechtzuerhalten. Seine Lippen bewegten sich dabei in gespenstischer Lautlosigkeit.
    Claudius glaubte, zwei bestimmte Worte zu erkennen. Dann begann das Gesicht des Toten schon wieder zu verblassen.
    Bleib bei mir, Bruder! brüllte Claudius lautlos in den Traum hinein, sag mir,; was es zu sagen gibt!
    Noch einmal stabilisierte sich das Antlitz kurz, dann zerfaserte es und verschwand. Der milchige Nebel löste sich ebenfalls auf.
    Mit einem lauten Schrei fuhr Claudius hoch. Schwer atmend saß der Mönch im Bett und starrte in die Finsternis. Der Mond stand hoch über dem Kirchturm und schien durch das schmale Fenster. Ganz langsam wandelte sich die Finsternis zu Dunkelheit und schließlich zu diffusem, grauem Nachtlicht, das ihn Konturen seiner spartanisch eingerichteten Zelle erkennen ließ.
    Der Mönch tastete zu dem kleinen Nachttisch, der neben seinem Bett stand. Erleichtert atmete er auf, als seine Finger den kleinen Handspiegel umschlossen.
    Der Spiegel des Eskil…
    Claudius zog ihn zu sich her. Der silberne Rahmen mit den feinen Ziselierungen leuchtete schwach im Mondlicht. Ein Kribbeln ging durch den Körper des Mönchs. Er spürte die starke Kraft, die diesem magischen Gegenstand innewohnte. Obwohl ihm Zamorra zwischenzeitlich verraten hatte, dass Asmodis selbst den Spiegel im innersten Kreis der Hölle als Waffe gegen den furchtbaren, viergesichtigen Svantevit schaffen ließ, konnte er sich nicht davon trennen. Das hing sicher damit zusammen, dass Bruder Claudius der aktuelle Vertreter des »Geheimen Ordens« war, einer seit Jahrhunderten bestehenden Wächterlinie, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher