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0816 - Der Todesbaum

0816 - Der Todesbaum

Titel: 0816 - Der Todesbaum
Autoren: Sylke Brandt
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Ofen stand dort, war aber nicht entzündet. Trotzdem fror Nicole jetzt nicht mehr - ein bisschen Leidenschaft hatte nicht nur das altehrwürdige Holzgestell des Bettes in Schwung versetzt, sondern auch ihr Blut erhitzt und ihre Stimmung gehoben. Jetzt gab es Arbeit zu erledigen.
    Mit einem Satz war sie aus den warmen Federn. Ein Blick auf die Waschschüssel und den Krug daneben zeigte ihr, dass sie gar nicht erst nach einer Dusche suchen musste. Wie viele Sterne mochte dieses Gasthaus haben? Einen halben vielleicht?
    »Wirklich sehr rustikal hier«, bemerkte sie, während sie in ihre Klamotten schlüpfte. »Mal sehen, was es zum Abendessen gibt - vielleicht ein halbes Wildschwein am Spieß?«
    »Wenn wir Glück haben. Kross überbackener Tourist wäre mir nicht so lieb.« Zamorra kämpfte sich unter der Decke hervor. »Was hast du bemerkt, als ich die Alte nach Jules Leroc gefragt habe?«
    »Sie ist ein geschicktes Weibsbild«, antwortete Nicole. »Sie hat nicht ganz gelogen und nicht ganz die Wahrheit gesagt. Sie kennt Jules Leroc nicht, das stimmt, aber das heißt nicht, dass sie ihn nicht gesehen hat.«
    »Geht’s nicht etwas genauer?«
    »Leider nicht«, sagte Nicole und drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war jetzt ernst. »Und das ist das Seltsame daran: Als ich damit anfing, meine Telepathie einzusetzen, dauerte es nur einen Moment, bis die Alte das zu merken schien. Erinnerst du dich an ihr Lächeln? Irgendwie hat sie das mitbekommen und mich ausgesperrt. Oder genauer gesagt: Sie hat etwas zwischen ihre und meine Gedanken geschoben wie ein Bild.«
    »Was für ein Bild?«
    »Blätter, Zweige, Grünzeug… Eigentlich ganz hübsch. Wie bei einer Wald-und Wiesenhexe. Trotzdem war etwas falsch daran. Wie bei einem Moor - oben blühen die schönsten Blumen, und darunter lauert die schwarze Tunke.« Sie schauderte kurz. »Wir müssen vorsichtig sein. Irgendwas stimmt nicht in diesem niedlichen Dorf.«
    Zamorra nickte, stand auf und ging zu dem Koffer. Aus einem geheimen Fach holte er zwei der E-Blaster und reichte einen seiner Lebensgefährtin hinüber.
    »Du solltest ihn vorsichtshalber irgendwo versteckt am Körper tragen.«
    Nicole blickte an dem hautengen Pulli und der knapp sitzenden Hose herunter, die sie eben angezogen hatte, und schenkte Zamorra ein süßliches Lächeln.
    »Guter Tipp. Danke.«
    Kurz darauf traten sie in den kleinen Speiseraum des Gasthauses.
    Er war nicht ganz so leer, wie sie erwartet hatten. Anscheinend kamen auch Leute aus dem Dorf abends hierher, um einen Schluck zu trinken. Trotzdem herrschte eine ruhige, fast gedämpfte Stimmung. Kein Vergleich zu Mostaches gemütlicher Dorfkneipe »Zum Teufel«, in der sich Zamorra und Nicole zu Hause mit ihren Freunden trafen. Da hätte es selbst im Keller unter den Spinnen mehr Gelächter gegeben als in diesem Schankraum.
    Den einzigen anderen Fremden schien das nicht zu stören. Der junge Mann war mit seinen modernen, farbenfrohen Fleece-Klamotten sprichwörtlich der bunte Hund in diesem Ort. Trotz - oder wegen - der stillen Atmosphäre hatte er den seligen Gesichtsausdruck eines Reisenden, der etwas gefunden hatte, was so ganz anders war als seine Heimat Vermutlich hatte ihn die Suche nach Mystik, Ursprünglichkeit und alten Geheimnissen in die Bretagne geführt, und da schien er in Bocage-Noir genau richtig zu sein.
    Allerdings musste Nicole zugeben, dass die junge Dorfschönheit, die ihm sein Essen brachte und sich dann zu ihm setzte, sicherlich zu seinem verklärten Gesichtsausdruck beitrug. Das Mädchen war blond und üppig und hatte erstaunliche Grübchen, wenn sie lächelte - was sie fast die ganze Zeit über tat. Ihre einfache Bluse war nachlässig geschnürt und gab den Blick auf einen hölzernen Halsreifen frei. Die Augen des Mädchens waren sehr grün, wie Nicole feststellte, während sie an einem heißen Gewürzwein nippte. Entweder waren die Leute hier im Dorf alle miteinander verwandt, oder es gab einen anderen Grund für diese Ähnlichkeit.
    Sie selber wurden von der alten Wirtin persönlich bedient, die es sich nicht nehmen ließ, Nicole ein weiteres Lächeln zu schenken. Es drückte nichts mehr aus als: Versuch es ruhig, Schätzchen, aber erwarte nicht, dass es klappt.
    Tatsächlich gelang es Nicole nicht, die Gedanken von irgendwem hier im Raum zu lesen. Nicht einmal von dem Rucksacktouristen, der so magisch wirkte wie ein Milchbrötchen - wobei sie sich mühelos denken konnte, was in seinem Kopf vor sich ging. Er versuchte ein
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