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0803 - Meleniks Mordnacht

0803 - Meleniks Mordnacht

Titel: 0803 - Meleniks Mordnacht
Autoren: Jason Dark
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Hausecke zu und nahm die wenigen vorbeifahrenden Wagen kaum wahr. Wie rollende Schatten huschten sie mit ihren hellen Glotzaugen an der davoneilenden Frau vorbei.
    Um diese Zeit waren relativ wenig Touristen in der Stadt. Schlug das Frühjahr voll durch, würde sich das rasch ändern.
    Marie erreichte eine Hausecke und lief dann direkt auf die Kathedrale zu. Auch hier rahmten sie graue Hausfassaden ein. Lichter leuchteten hinter den Scheiben, ab und zu tauchte ein besorgtes Gesicht auf, und auf den Dächern wiegten sich die blitzenden TV-Antennen nach den Bewegungen eines unsichtbaren Dirigenten in seinem Rhythmus.
    Das Pflaster war an einigen Stellen sehr holprig. An einer Baustelle auf dem Gehsteig hatte der Wind das Absperrgitter bereits umgeworfen, und die rotweißen Trassierbänder flatterten hektisch im Wind.
    Marie Avide umging die zerstörte Absperrung mit vorsichtigen Schritten. Von der Seite her erwischte sie ein wütender Windstoß und hätte sie beinahe von den Beinen gerissen. Er wirbelte Staub und Papier hoch, fegte die Rinnsteine leer, schuf Wolken, die der einsamen Frau einen Teil der Sicht nahmen. Sie hielt die Augen zudem zu Schlitzen verengt, weil sie auf keinen Fall durch den Staub blind werden wollte.
    Chartres hatte vierzigtausend Einwohner, doch Marie kriegte in dieser Nacht keine einzige Person zu sehen.
    Weit hatte sie nicht mehr zu laufen, und der große Regen hatte zum Glück noch nicht eingesetzt. Marie schaute die Straße hinunter und sah in der sturmdurchtosten Dämmerung ein imposantes Bild.
    Obwohl sie schon lange Jahre in dieser Stadt wohnte und auch hier geboren war, flößte ihr der Anblick dieses imposanten Bauwerks noch immer so etwas wie einen heiligen Schauer ein. Im zwölften Jahrhundert war die Kathedrale errichtet worden. Ihre beiden unterschiedlichen Türme stachen wie ausgestreckte Ärmel in den Himmel, und dieses sakrale Bauwerk zählte zu den frühesten Werken der gotischen Architektur, die damals die romanische Bauweise abgelöst hatte. Die Kathedrale stand da wie eine Trutzburg, sie hatte bisher auch den schlimmsten Stürmen standgehalten.
    Immer wenn Marie die Kathedrale in einem bestimmten Licht sah, kriegte sie eine Gänsehaut. Das war auch jetzt so. Für einen Moment vergaß sie die Unbillen des Wetters, sie ging in direkter Linie auf die Kathedrale zu, über der ein grauer, scharf konturierter Himmelsausschnitt schwebte.
    An diesem Abend überkam Marie Avide beim Anblick des Bauwerks ein heftiger Schauer. Es war plötzlich eine tiefe Angst in ihr, die sie sonst nie gespürt hatte. Vor ihren Augen schien die Kirche zu tanzen. Die beiden spitzen Türme schwangen wie TV-Antennen von einer Seite zur anderen, Schatten umflogen das Bauwerk als lange Schlangen, und die manchmal unheimlich wirkenden Figuren an den verschiedenen Seiten der Kathedrale waren erwacht wie böse Teufel.
    »Nein, nein!«, keuchte die Frau. »Das ist… das ist ein Haus Gottes, nicht des Teufels …« Der Wind riss ihr die Worte vom Mund. Sie blieb stehen, drehte den Kopf zur Seite und kriegte einen heftigen Sturmstoß in den Nacken.
    Marie wollte über sich selbst lachen, erschrak zutiefst, als dann hinter ihr eine Hupe ertönte.
    Sie sprang mit einem Satz zur Seite, schaute dabei über ihre Schulter und sah in das Scheinwerferlicht eines Lieferwagens, der dann an ihr vorbeifuhr. Sie konnte dem Fahrer wegen der Huperei keinen Vorwurf machen, weil sie ja mitten auf der Straße stehen geblieben war.
    Sie sah noch, wie der Mann ihr den Vogel zeigte, dann glitt das Fahrzeug in die Düsternis der Straße und bog vor der Kathedrale nach rechts ab.
    Für Marie Avide war die eigene Stadt fremd geworden. Wie ein großer Baukasten, in dem jemand beliebig die Klötze verstellte und auch für bestimmte Witterungsverhältnisse sorgte, ohne dabei auf die Menschen Rücksicht zu nehmen.
    Vergleiche wie ein Spielball des Unheils kamen ihr in den Sinn.
    Sie fühlte sich bedroht, nicht allein vom Wetter, auch die Umgebung stieß sie einfach ab. Marie drehte sich auf der Stelle.
    Der Wind war für einen Moment eingeschlafen. Erst jetzt holte sie bewusst Atem und lauschte dem eigenen Keuchen. Sie fühlte sich erschöpft und war nass geschwitzt, sie sehnte sich nach einer Dusche, die aber konnte sie nur zu Hause nehmen, dort musste sie so schnell wie möglich hin.
    Die Kathedrale lag als düstere Kulisse vor ihr. Schatten umtanzten sie wieder. Der Himmel war dunkel, die Wolken wirbelten, die große Kirche hatte sich
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