0655 - Der Tod in Moskau
genommen hast. Du hättest es nicht nehmen dürfen.«
»Ich habe dir niehts genommen.«
»Du nahmst es, aber du konntest nichts dafür. Es geschah, weil es zu deiner Art gehört, es zu nehmen. Da es nicht dein Ziel war, mich zu berauben oder gar mein Licht zu verlöschen, sehe ich von einer Bestrafung ab. Aber ich rate dir, niemals wieder meinen Weg zu kreuzen.«
»Sonst bringst du mich um, ja?« fragte sie spöttisch.
»Das kann ich nicht mehr. Niemand stirbt zweimal«, wiederholte er.
»Dann werde ich deinen Weg wieder und wieder kreuzen«, drohte sie. »Und ich werde dir jedesmal gezielt diese Kraft abnehmen, wenn du wieder versuchst, Menschen zu ermorden! Ich lasse es nicht zu! Niemand darf einen anderen töten!«
Und erst recht nicht im Wunderwald. Aber im Wunderwald habe ich getötet. Mea culpa, mea maxima culpa…
Ein Gedankenfetzen, der wieder verflog, ehe sie nach ihm greifen konnte!
»Es ist meine Aufgabe, Leben zu nehmen.«
»Dann ist es meine, das zu verhindern. Verschwinde von hier! Geh und kehre nie mehr hierher zurück! Belästige die Menschen nie wieder!«
»Das kannst du nicht ernsthaft wollen.« In seiner hohlen, weit entfernten Stimme klang ein wenig Belustigung mit. »Nein, du kannst es nicht wollen. Du hast nicht nachgedacht. Wenn niemand mehr stirbt, wird es schon bald zu viele Menschen auf dieser Welt geben. Jeden Tag kommen Hunderttausende, kommen Millionen hinzu. Jeden Tag müssen Millionen sterben, um den Ausgleich zu schaffen. Stell dir ein Haus vor, das keine Türen und Fenster hat, damit niemand es verlassen kann. Menschen werden geboren, einer nach dem anderen. Aber keiner stirbt. Es kommen immer mehr hinzu. Der Platz wird knapp, aber niemand kann gehen. Sie treten einander auf die Füße. Sie ersticken sich gegenseitig. Sie können nicht ernährt werden, aber sie sterben auch nicht, obgleich sie verhungern! Dieser Planet hat nur Raum für eine begrenzte Zahl von Menschen. Wenn niemand mehr stirbt, wird es eines Tages keinen freien Millimeter Boden mehr geben. Keinen Bewegungsspielraum für irgendwen. Keine Luft zum Atmen, kein Ackerland, um Nahrung zu erzeugen. Und Menschen werden alt und krank. Sie werden leiden, sehr lange leiden. Der Tod wäre eine Erlösung, aber er kommt nicht. Sie leben ewig und erdulden ihre Schmerzen. Nicht ein Jahr, nicht zehn Jahre. Nicht hundert Jahre. Jahrmilliarden, eine Ewigkeit lang. Nichts anderes als Schmerzen. Würdest du das wirklich wollen?«
»Das rechtfertigt keinen Mord!«
»Ich bin der Tod.«
Er hatte seine alte Kraft zurückgewonnen. Für sie war nichts zurückgeblieben. Die Leichtigkeit war fort, das Gefühl, schweben zu können. Alle Magie war zu ihm zurückgeflossen.
»Störe meine Kreise nicht wieder«, warnte er noch einmal.
»Doch!« schrie sie auf. »Ich werde es immer wieder tun! Was willst du dagegen unternehmen? Du sagst selbst, du könntest mich nicht töten!«
»Es gibt andere Wege der ewigen Verdammnis, die du würdest beschreiten müssen.«
»Du bist ein Dämon!« schrie sie ihn an. »Eine bösartige Kreatur der Finsternis!« Unwillkürlich griff sie nach dem Dolch - aber sie trug ihn nicht bei sich.
Sie erschrak vor sich selbst.
»Du bist nicht besser als der Rest der Welt«, sagte er. »Du willst zum Dolch greifen, und durch einen Dolch wirst du gestorben. So war der Lauf der Dinge sein.«
Er lachte.
Im nächsten Moment war er fort.
Eva stand allein in dem dunklen Hausflur.
Plötzlich wurde es heller. Das von draußen kommende Tageslicht drang herein, löschte die Dunkelheit aus.
Die Worte des Todes klangen in ihr nach. Seltsame, verrückte Worte. Durch einen Dolch wirst du gestorben. So war der Lauf der Dinge sein.
Nicht: Durch einen Dolch wirst du sterben. So ist der Lauf der Dinge. Oder: Durch einen Dolch bist du gestorben.
Er hatte eine völlig verrückte, aberwitzige Formulierung benutzt.
Warum?
Er konnte sich doch normal artikulieren. Er hatte es bewiesen. Warum brachte er jetzt die Zeitwörter durcheinander? Wirst du gestorben und war sein!
Verrückt!
Langsam wandte sie sich ab und trat wieder auf die Straße hinaus.
Sie fühlte sich wie in einem Alptraum.
Und stand plötzlich einem dunkel gekleideten Mann gegenüber.
***
Zamorra schreckte zurück. Er stoppte seinen Vorstoß und beendete den Hypnose-Zustand der Frau. Etwas verwirrt sah Nadja Karelina ihn an.
»Und?« fragte sie. »Haben Sie etwas erfahren?«
»Nein«, erwiderte Zamorra rauh, »Nichts. Leider. Ich danke Ihnen für Ihre
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