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052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde

052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde

Titel: 052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
Autoren: Larry Brent
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kommen.
    Michele Claudette trug die prallgefüllte Reisetasche mit dem schwarzroten
Schottenmuster in der Linken.
    Um diese späte Stunde befand sich kaum noch ein Passagier auf dem Bahnsteig
der Haltestelle in der Rue de Passy. Auch das war sie gewohnt. Sie kam oft
hierher. Mindestens zweimal im Monat. Eine alte alleinstehende Tante wohnte
hier in der Rue de Passy. Sie selbst wohnte fast am entgegengesetzten Ende von
Paris, in der Gegend vom Pte. de Montreuil. Sie würde dort etwa heute Nacht um
1.15 Uhr eintreffen.
    Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust der grazilen Michele. Der
graugrüne Zug kam angefahren. Sein Rauschen erfüllte den unterirdischen Tunnel.
    Michele stieg ein. Sie ging durch den schmalen Gang und nahm in einem
Abteil Platz. Niemand sonst schien sich in diesem Wagen zu befinden. Mit dem
Fuß schob sie die Reisetasche unter die Sitzbank, die sich ihr gegenüber
befand.
    Sekunden später rauschte der Zug davon. Wie Schemen huschten die dunklen
Wände des Tunnels an ihr vorbei.
    Sie blätterte gelangweilt in einer Illustrierten und studierte eingehend
eine Reklame für neuartige Damenslips, in der die Kreationen eines führenden
amerikanischen Herstellers angepriesen wurden, der sich anschickte, auch den
europäischen Markt zu erobern. Auf einem überdimensionalen Diwan lag eine
halbnackte, gutaussehende junge Frau, die nur mit einem dieser modernen,
reizvollen Dessous bekleidet war. EY war ein Slip, der in der Mitte einen
Einsatz aus feinster Spitze trug. Dieser Einsatz fiel offensichtlich ins Auge.
    Michele blätterte weiter.
    Zwei Stationen später kam ein älterer Mann, der fast die gleiche
Reisetasche wie sie trug, zu ihr ins Abteil.
    Auf der Schwelle erschrak er offensichtlich, da schon jemand im Abteil saß.
Er war so in Gedanken versunken, dass er durch den Eingang stolperte. Er war
verwirrt. Ein älterer Mann, den Hut ein wenig in die Stirn gedrückt.
    Graue Haare geigten sich unter dem Hutrand.
    »Guten Abend«, murmelte der Fremde.
    »Guten Abend«, entgegnete Michele Claudette. Sie hob den Blick und sah, wie
der alte Herr seine Tasche achtlos unter die Sitzbank schob. Für den Bruchteil
eines Augenblicks kam es ihr vor, als ob der neue Fahrgast am liebsten wieder
umkehren und in ein anderes Abteil gehen würde.
    Michele Claudettes Lippen verzogen sich kaum merklich. Alte Leute waren
manchmal seltsam, ging es ihr durch den Kopf. Aber sie machte sich keine
weiteren Gedanken darüber.
    Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Auch der Alte ihr gegenüber rückte
ganz an das Fenster.
    Der Zug stand an der Station Trocadero.
    Später sollte Michele Claudette noch einmal daran erinnert werden ...
    Der seltsame Reisegast nahm weder den Hut ab noch entledigte er sich seines
Mantels. Offenbar hatte er die Absicht, an der nächsten oder übernächsten
Station wieder auszusteigen.
    Während Michele in der Illustrierten blätterte, wurde ihr bewusst, dass der
Alte sie immer wieder aus den Augenwinkeln heraus musterte.
    Als sie schließlich den Blick hob und seinen Augen begegnete, erschauerte
sie. Er hatte kalte, sezierende Augen, und sie fühlte sich mit einem Mal
unsicher in der Nähe dieses Mannes.
    Unwillkürlich rückte sie ein wenig von ihm ab. Michele konnte sich selbst
nicht erklären, was sie plötzlich so unsicher machte und irritierte. Es war die
Nähe dieses Fremden, es waren seine Augen! Plötzlich lächelte er. Aber seine
Augen lächelten nicht mit.
    »Fahren Sie diese Strecke öfter?«, fragte er leise. Er lehnte sich zurück.
    Seine Stimme klang dunkel, nicht einmal unangenehm.
    Sie wollte schon lügen, aber sie brachte es nicht fertig.
    »O ja, sehr oft«, kam es über ihre Lippen. Sie antwortete ganz mechanisch.
    »Mindestens zweimal im Monat.«
    »Und immer so spät?«
    »Immer so spät, ja.«
    Er schüttelte den Kopf. »Die Zusteigestationen in der Metro machen um diese
Zeit einen so verlassenen Eindruck. Fürchten Sie sich nicht?«
    »Warum sollte ich mich fürchten?« Er zuckte die Achseln. »So ganz ohne
Begleitung. Haben Sie keinen Freund, der Sie nach Hause bringt?«
    Sie kniff die Augen zusammen. Sie war empört über diese Frage, aber
seltsamerweise brachte sie es nicht fertig, ihm die passende Antwort auf diese
unverschämte Frage zu geben.
    Etwas hielt sie davon ab. Sie versuchte erneut zu lächeln. Aber es gelang
ihr nicht so recht. Ja, sie fürchtete sich
mit einem Mal! So ganz sicher fühlte sie sich nicht mehr. Unbewusst warf sie
einen Blick hinaus auf den Gang und
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