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05 - Denn bitter ist der Tod

05 - Denn bitter ist der Tod

Titel: 05 - Denn bitter ist der Tod
Autoren: Elizabeth George
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skizzieren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre Finger erschienen ihr steif. Sie taten ihr weh bis in die Nägel. Sie verachtete sich für ihre Schwäche.
    Sie zwang sich, sich auf dem Klappstuhl niederzusetzen und über den Fluß zur Brücke zu blicken. Sie achtete auf die Details und bemühte sich, Linien und Winkel zu erfassen, Teil einer simplen Kompositionsaufgabe, die gelöst werden mußte. Reflexhaft begann ihr Verstand auszuwerten, was ihr Auge aufnahm. Drei Erlenzweige, auf deren feuchten späten Herbstblättern das bißchen Licht glänzte, das vorhanden war, wirkten wie ein Rahmen für die Brücke. Sie bildeten Diagonalen, die zunächst über dem Bauwerk schwebten und sich dann schnurgerade zur Treppe hinuntersenkten, die zum Coe Fen führte, wo im Nebel die fernen Lichter von Peterhouse zu erahnen waren. Eine Ente und zwei Schwäne trieben geisterhaft auf dem Fluß, der so grau war, so grau wie die Luft, daß die Vögel im Raum zu schweben schienen.
    Schnelle Striche, dachte sie, großzügig und kühn, Kohle, um mehr Tiefe zu erzielen. Sie setzte ihren ersten Strich, dann einen zweiten und einen dritten, ehe ihre Finger erschlafften und die Kohle losließen, so daß sie über das Papier in ihren Schoß rollte.
    Sie starrte auf den mißlungenen Ansatz einer Zeichnung. Dann riß sie das Blatt aus dem Block und begann von neuem.
    Sie merkte, wie ihr Magen rumorte und Übelkeit ihr in die Kehle stieg. Verzweifelt sah sie sich um. Sie wußte, daß die Zeit nicht reichte, um nach Hause zu fahren, wußte auch, daß sie sich keinesfalls hier und jetzt übergeben konnte. Sie blickte auf ihre Skizze, erblickte die unvollkommenen, spannungslosen Linien und knüllte das Blatt zusammen. Sie fing eine dritte Skizze an und konzentrierte sich einzig darauf, ihre rechte Hand ruhig und sicher zu führen. Gegen die Panik kämpfend, versuchte sie, die Neigung der Erlenzweige nachzuempfinden; das gesprenkelte Muster der Blätter anzudeuten. Die Kohle zerbrach ihr in der Hand.
    Sie stand auf. So war das nichts. Die schöpferische Kraft mußte sie führen. Zeit und Ort mußten versinken. Die Leidenschaft mußte zurückkehren. Aber das war nicht geschehen. Sie war fort.
    Du kannst, dachte sie mit wütender Entschlossenheit. Du kannst und du willst. Nichts kann dich hindern. Niemand steht dir im Weg.
    Sie klemmte den Skizzenblock unter den Arm, packte ihren Klappstuhl und ging in südlicher Richtung über die Insel, bis sie zu einer kleinen Landzunge kam. Sie war von Nesseln überwuchert, aber sie bot einen anderen Blick auf die Brücke. Das war die Stelle.
    Der Boden unter der dichten Laubdecke war lehmig. Bäume und Büsche bildeten ein Netzwerk aus fast kahlen Ästen und Zweigen, hinter dem sich in der Ferne die Steinbrücke des Fen Causeway erhob. Hier stellte Sarah ihren Klappstuhl auf. Sie trat einen Schritt zurück und stolperte über einen Ast, wie es schien, der unter einem Blätterhaufen halb verborgen war. Sie schreckte auf.
    »Verdammt«, entfuhr es ihr, und sie trat das Ding mit dem Fuß weg. Die Blätter fielen zur Seite. Sarah drehte sich der Magen um. Es war kein Ast, es war ein menschlicher Arm.

2
    Zum Glück war der Arm mit einem Körper verbunden. In seiner neunundzwanzigj ährigen Dienstzeit bei der Polizei von Cambridge hatte Superintendent Daniel Sheehan nie mit einem Fall von Zerstückelung zu tun gehabt, und er war auch jetzt nicht scharf auf dieses zweifelhafte Vergnügen.
    Nach dem Anruf von der Dienststelle um zwanzig nach acht war er mit blinkenden Lichtern und heulender Sirene von Arbury losgebraust, froh, dem Frühstück entrinnen zu können, das seit nunmehr zehn Tagen in Folge aus Grapefruit ohne Zucker, einem gekochten Ei und einem Scheibchen Toast ohne Butter bestand. In seiner Frustration neigte er dazu, Sohn und Tochter wegen ihrer Kleidung und ihrer Haare anzuschnauzen, als trügen sie nicht adrette Schuluniformen, als wäre ihr Haar nicht frisch gewaschen und ordentlich gekämmt. Die beiden pflegten nur ihre Mutter anzusehen, ehe sie sich alle drei schweigend ihrem eigenen Frühstück zuwandten, Märtyrer, die allzu lange schon unter den unberechenbaren Launen des chronischen Hungerkünstlers litten.
    Am Kreisverkehr Newnham Road stand der Verkehr, Sheehan erreichte die Brücke am Fen Causeway nur deshalb lange vor allen anderen, weil er halb auf dem Bürgersteig vorfuhr. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie es jetzt auf den Einfallstraßen im Süden der Stadt zuging. Sobald er seinen
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