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038 - Der Geistervogel

038 - Der Geistervogel

Titel: 038 - Der Geistervogel
Autoren: James R. Burcette
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greifen.
    Entsetzt rannte sie weiter, endlich erreichte sie die ersten Häuser und ging langsamer. Ihr Gesicht war schweißnaß, sie zog das Taschentuch hervor und trocknete sich ab.
    Sie war bleich, und ihre Hände zitterten, als sie ins Wohnzimmer trat. Ihr Vater saß im Schaukelstuhl und blickte auf, als sie eintrat.
    „Wie war’s, Silke?“ fragte er.
    „Ganz nett“, sagte sie stockend.
    „Was hat du?“
    „Nichts, Vater”, sagte sie. „Ist Mutter in der Küche?“ Er nickte. „Du bist so bleich. Ist etwas?“
    Sie schüttelte den Kopf und zwang ein Lächeln aufs Gesicht. „Alles in Ordnung Vater.“
    „Dann ist es gut“, sagte er, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen. Silke ging rasch in die Küche.
    Sie fühlte sich völlig verwirrt. Sie hatte Ingruns Gesicht im Sand gesehen, sie konnte sich nicht getäuscht haben, es war zu deutlich zu sehen gewesen, und es hatte ihr zugelächelt. Dann war das Lächeln verschwunden, und der Mund war weit offen gestanden. Rasch endete der Spuk.
    Sie atmete schwer, als sie neben ihrer Mutter stehen blieb, die flüchtig aufsah.
    „Du bist schon zurück?“ fragte ihre Mutter. „Ich dachte, du würdest später kommen. Hast du schon gegessen?“
    „Ja“, sagte Silke. „Soll ich dir helfen, Mutter?“
    „Das ist nicht notwendig. Geh zu Vater zurück.“
    Silke wunderte sich, daß ihre Mutter sich nicht erkundigte, wie es ihr bei den Brockenhausens gefallen hatte. Aber ihre Mutter war seit dem Tod Ingruns seltsam geworden. Es kam Silke vor, als würde sie die Welt nicht mehr richtig sehen.
    Silke kehrte nicht ins Wohnzimmer zurück, sie ging in ihr Zimmer, das jetzt ihr ganz allein gehörte. Früher hatte sie es mit Ingrun geteilt. Sie öffnete die Tür und setzte sich aufs Bett. Ar. der Wand hingen noch die Poster, die Ingrun vor einem Jahr aus Hamburg mitgebracht hatte. Auf dem Nachtkästchen lagen einige Taschentücher, Krimis, die von Ingrun besonders gern gelesen worden waren. In der Ecke lehnte eine alte Gitarre, die Ingrun vor zwei Jahren zum Geburtstag bekommen hatte.
    Tränen rannen über Silkes Wangen, als sie an ihre Schwester dachte. Der Raum war leer ohne sie, ohne ihr Lachen, ohne die kleinen harmlosen Geheimnisse, die sie Silke immer anvertraut hatte.
    Das Zimmer war noch so, wie es Ingrun verlassen hatte, damals vor vierzehn Tagen, als sie Osterwasser holen gegangen war und nicht mehr zurückkehrte.
    Silke wischte sich die. Tränen fort, legte sich aufs Bett und erwartete, daß jeden Augenblick die Tür geöffnet werden und Ingrun lachend eintreten würde. Doch nichts geschah.
    „Silke!“ hörte sie ihren Vater rufen. „Wo steckst du?“
    „Ich komme“, rief sie und stand rasch auf.
    „Du hast geweint“, stellte ihr Vater fest, als sie zögernd ins Wohnzimmer kam. „Du sollst nicht so viel an Ingrun denken, Kind. Das ist nicht gut.“
    „Ich muß aber an sie denken”, sagte Silke trotzig. „Und wenn ich an sie denke, da muß ich …“
    Mühsam unterdrückte sie die Tränen, setzte sich rasch und wandte den Kopf zur Seite, damit ihr Vater nicht ihre tränengefüllten Augen sehen konnte.
    Das Abendbrot wurde schweigend eingenommen, Silke aß nicht mit. Nach dem einfachen Essen stand Gerd Thorensen auf. „Ich gehe einen Schluck trinken“, sagte er.
    Silkes Mutter gab keine Antwort, sie räumte das Geschirr auf ein Tablett und trug es in die Küche. Silke folgte ihr.
    Gerd sah ihnen finster nach, fuhr sich mit der Lippe über die Zunge und zuckte mit den Schultern.
    Silke wusch das Geschirr ab, ihre Mutter sah ihr dabei schweigend zu.
    „Was hast du, Mutter?“ fragte Silke und räumte das Geschirr in den Schrank.
    „Ich habe nichts“, sagte ihre Mutter leise. „Gar nichts.“
    „Du bist so anders. Mutter.“
    „Ich bin so wie immer. Ich gehe schlafen. Gute Nacht. Kind.“
    Silke sah ihr nach. Wie eine aufgezogene Puppe, dachte das Mädchen. Sie geht so unsicher, so hölzern, die Schultern weit nach vorn gebeugt.
    Silke blieb unschlüssig stehen, sie wollte nicht in ihr Zimmer zurück, zu viel erinnerte sie an Ingrun.
    Sie setzte sich ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein. Unwillkürlich suchte sie einen der Piratensender, die Ingrun besonders gern gehört hatte. Ingrun hatte englische Popmusik geschätzt, sie hatte gar nichts für deutsche Schlager übrig gehabt, die sie als dumm und nervtötend bezeichnet hatte.
    Silke hörte einige Zeit zu, doch ihr gaben diese Lieder nichts. Sie verstand den Text nicht, und sie mochte es,
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