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03 - Tod im Skriptorium

03 - Tod im Skriptorium

Titel: 03 - Tod im Skriptorium
Autoren: Peter Tremayne
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langen braunen Wollmantel mit Kapuze gekleidet, der dick und warm war und sie vor der Kälte des Spätherbstes schützte. Ohne Furcht vor dem Wüten des Sturms sah sie zum Himmel auf. Die dunkelgrauen Wolken jagten niedrig dahin und verhüllten die entfernten Bergspitzen wie ein Nebel. Stellenweise hoben sich von diesem Hintergrund dunklere Wolken ab, deren drohende Schwärze den rollenden Donner barg.
    Die Frau kniff die Augen zusammen, als ihr der kalte Regen eisig schmerzend ins Gesicht schlug. Sie war jung und anziehend, ohne hübsch zu sein, und widerspenstige rötliche Haarsträhnen ringelten sich unter der Kapuze über ihre breite Stirn. Auf ihrer hellen Haut zeigten sich ganz leichte Sommersprossen. Die Augen sahen augenblicklich so grau aus wie der düstere Himmel, doch im Licht der Blitze leuchtete ein grünes Feuer in ihnen auf. Sie saß mit jugendlicher Gewandtheit im Sattel, und ihre hohe Gestalt beherrschte das unruhige Pferd sicher. Bei näherer Betrachtung hätte man das silberne Kruzifix entdeckt, das sie am Halse trug, und die Nonnentracht, die der schwere Reitmantel und die Kapuze verbargen.
    Schwester Fidelma von der Gemeinschaft der heiligen Brigid von Kildare hatte das Gewitter seit einiger Zeit erwartet und wurde von seinem plötzlichen Ausbruch nicht überrascht. Die Anzeichen waren schon lange zu erkennen. Auf ihrem Ritt hatte sie gesehen, wie sich die Kiefernzapfen schlossen, die Gänseblümchen und der Löwenzahn ihre Blumenblätter einrollten und die Stengel des Wiesenklees anschwollen. Das alles verriet ihrem scharf beobachtenden Blick das Nahen des Regens. Selbst die letzten Schwalben, die sich zum Abflug aus Éireann für die Wintermonate rüsteten, flogen dicht über dem Boden, ein sicheres Anzeichen für ein bevorstehendes Gewitter. Schließlich hatte sie, als sie an einer Holzfällerhütte vorbeiritt, gesehen, wie sich der Rauch des Herdfeuers niederschlug, statt sich aufwärts zu ringeln. Er wurde nach unten gedrückt und zog in kleinen Schwaden um das Gebäude, ehe er sich in der kalten Luft auflöste. Sie wußte aus Erfahrung, daß ein solcher Rauch unweigerlich nahen Regen ankündigte.
    Auf das Gewitter war sie also vorbereitet, nur nicht auf seine Heftigkeit. Sie hielt einen Moment an und überlegte, ob sie in den Schutz des Waldes zurückkehren und das Nachlassen des Regengusses abwarten solle. Aber sie war nur wenige Meilen von ihrem Ziel entfernt, und wegen der Dringlichkeit der Botschaft, die sie zum sofortigen Kommen aufgefordert hatte, stieß sie dem Pferd die Hacken in die Seiten und ritt den Pfad hinunter, der über die weite Ebene zu dem fernen Berg führte, der trotz des peitschenden Regens und des dunklen Himmels gerade noch zu erkennen war.
    Dieser auffallende Hügel war ihr Ziel, ein großer Kalksteinblock, der sich mehr als sechzig Meter über die umliegende Ebene erhob. Seine steilen Flanken zeichneten sich manchmal im Licht der Blitze ab. Fidelma spürte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte, als sie die vertrauten Konturen betrachtete. Sie kannte die befestigten Gebäude, die diese natürliche Festung krönten. Es war Cashel, der Königssitz von Muman, des größten der fünf Königreiche von Éireann. Dort war sie geboren und aufgewachsen.
    Während sie weiterritt, den Kopf gegen den scharfen, böigen Wind gesenkt, der ihr den prasselnden Regen entgegentrieb, durchzogen sie widerstreitende Gefühle. Sie war freudig erregt beim Gedanken, ihren Bruder Colgú nach mehreren Jahren wiederzusehen, doch zugleich überlegte sie besorgt, warum er ihr ausrichten ließ, sie solle ihre Gemeinschaft in Kildare verlassen und so schnell wie möglich nach Cashel kommen.
    Während des ganzen Ritts hatte diese Frage sie bedrängt. Mehrfach hatte sie sich selbst dafür getadelt, daß sie Zeit und Energie darauf verschwendete. Fidelma war in einer traditionellen Disziplin erzogen worden. Sie erinnerte sich an den Rat ihres alten Lehrers, des Brehon Morann von Tara: »Mach dir keine Gedanken über ungelegte Eier.« Es hatte keinen Zweck, sich mit der Lösung eines Problems abzuplagen, ehe sie nicht die Fragen kannte, die sie stellen mußte.
    Also hatte sie versucht, sich solche Sorgen aus dem Kopf zu schlagen, und die Kunst der dercad , der Meditation, zu Hilfe genommen, durch die zahllose Generationen irischer Mystiker den Zustand des sitcháin , des Friedens, erlangt hatten. In Zeiten der Belastung übte sie sich regelmäßig in dieser uralten Kunst, obgleich einige
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