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009 - Der Engel von Inveraray

009 - Der Engel von Inveraray

Titel: 009 - Der Engel von Inveraray
Autoren: Karyn Monk
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löste der Wärter die Hände von Jacks Kehle.
    „Gütiger Himmel, Sims!" sagte der Gefängnisdirektor entsetzt. „Was zum Teufel geht hier vor?"
    Mit einer übermenschlichen Anstrengung gelang es Haydon, den Kopf zu drehen.
    Governor Thomson war ein stämmiger kleiner Mann mit einer Halbglatze. Er machte sein fehlendes Haupthaar durch einen drahtigen grauen Kinnbart wett, den er stolz zur Schau trug und gewissenhaft in Form eines Spatens gestutzt hatte. Wie üblich war er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, in Haydons Augen eine passende Farbe für einen Mann, der seine Tage hinter düsteren Gefängnismauern verbrachte.
    In gewisser Weise ist Governor Thomson durch seinen Beruf ebenso verdammt wie jene, die ihr erbärmliches Leben hinter den Mauern seines Kerkers fristen, ging Haydon durch den Kopf.
    „Diese beiden Gefangenen haben versucht, mich umzubringen", winselte der Wärter.
    „Governor Thomson, gehört es zu Ihren Grundsätzen, die grausame Misshandlung von Kindern zu dulden?"
    Die Frau an der Seite des Gefängnisdirektors wirkte wie eine überirdische Erscheinung: Ihr Gesicht war unter einer grauen Schute verborgen und ihr schlanker Leib irgendwo unter den Falten ihres wallenden dunklen Umhangs. Sie bebte vor Zorn, strahlte aber gleichzeitig eine beeindruckende Selbstsicherheit und natürliche Würde aus, welche die kalte kleine Zelle mit stärkender Kraft erfüllten.
    „Natürlich nicht, Miss MacPhail", versicherte Governor Thomson hastig und schüttelte dabei den Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Alle unsere Gefangenen werden gerecht und anständig behandelt. Es sei denn", berichtigte er sich nach einem flüchtigen Blick auf Haydon, „sie stellen eine Gefahr für andere dar.
    Sie werden gewiss verstehen, dass Mr. Sims in einem solchen Fall zum Eingreifen gezwungen ist."
    „Sie haben versucht, mich umzubringen", jammerte der Wärter erneut und gab sich größte Mühe, so auszusehen, als sei er um Haaresbreite dem Tode entronnen. „Sie stürzten sich auf mich wie zwei wilde Tiere ... Ich kann von Glück sagen, wenn meine Knochen noch heil sind." Er rieb sich den Ellbogen, offenbar in der Hoffnung, Mitgefühl zu erregen.
    „Und was hat sie Ihrer Meinung nach zu derartigem Verhalten veranlasst?" fragte die Frau in eisigem Ton.
    Der Wärter zuckte die Achseln. „Ich hab das Bürschchen nur abholen wollen, um ihm seine verdiente Tracht Prügel zu verpassen, als es plötzlich wütend wurde und ..."
    „Sie hatten vor, diesen Jungen auszupeitschen?"
    Haydon war nicht sicher, was größer war: ihr Entsetzen oder ihre Empörung.
    „Der Sheriff hat ihn zu sechsunddreißig Peitschenhieben verurteilt", erläuterte Governor Thomson, als ob dieser Umstand ihn und den Wärter irgendwie von ihrer Verantwortung entbinden könnte. „Außerdem zu vierzig Tagen Kerker. Danach warten noch zwei Jahre in einer Besserungsanstalt auf ihn."
    „Für welches Vergehen?"
    „Der Bursche ist ein Dieb", erklärte Governor Thomson.
    „Tatsächlich?" Die Stimme der Frau triefte vor Spott.
    Sie wandte sich um, ging auf Haydon zu und löste dabei die Bänder ihrer Haube. Die dunkle Kopfbedeckung rutschte ihr in den Nacken und offenbarte eine Frau, die viel jünger und schöner war, als er zunächst angenommen hatte. Ihr blasses Gesicht wurde von dichtem rotblonden Haar umrahmt, das sie mehr schlecht als recht mit Haarnadeln zu bändigen versuchte. Die großen Augen hoben sich dunkel von dem milchweißen Teint ab, und sie hatte fein geschnittene und regelmäßige Züge. Ihre Schönheit wirkte ebenso strahlend wie fehl am Platz in der modrigen Finsternis der Kerkerzelle. Es war, als sei plötzlich eine herrliche Blume aus einer der Ritzen des schmutzigen Fußbodens gewachsen. Ohne sich von der Aussicht, sie könne ihre Kleider beschmutzen, abschrecken zu lassen, kniete sie neben Haydon nieder und zog beim Blick in sein schmerzverzerrtes Gesicht besorgt die Brauen zusammen.
    „Sind Sie schwer verletzt, Sir?"
    Von stiller Bewunderung ergriffen, schaute Haydon sie an. Ganz so jung, wie er geglaubt hatte, war sie nicht mehr. Das erkannte er an den feinen Linien, die sich um ihre Augen und auf ihrer Stirn zeigten. Fünfundzwanzig Jahre mochte sie sein, vielleicht älter. Sie schien zu wissen, was Sorgen waren, denn sie hatte eine zarte Furche zwischen den Brauen. Doch Haydon spürte, dass sie auch viel gelacht haben musste. In diesem Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher als ein Lächeln von ihr. Er
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