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003 - Der Totentanz

003 - Der Totentanz

Titel: 003 - Der Totentanz
Autoren: Alphonse Brutsche
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eintraf – er war immer der erste –, war Christine in seinem Geist wieder ganz lebendig. Es war die Frau, die er kannte, kein Schreckgespenst, und er hatte seinen gewohnten Dialog mit ihr wieder aufgenommen. So war es ihm gelungen, die fürchterlichen Eindrücke der Nacht zu verwischen.
    Als Paul Canauff eintraf, fand er Pierre bereits am Zeichentisch in seine Arbeit vertieft. Das lange, schmale Gesicht Merlins war ruhig. Ein trauriger Ausdruck war jetzt darin zu lesen. Als Paul ihm guten Morgen wünschte und ihn fragte, wie es ihm ginge, bedachte Pierre ihn nur mit einem stummen Blick und nickte ihm zu.
    Gegen zehn Uhr wurde Pierre Merlin ins Büro von Martin Bontemps gerufen, dem Leiter des Stadtbauamtes. Als er das Zimmer verlassen hatte, hob Brigitte Dubois den Blick von dem Grundriss, an dem sie gerade arbeitete.
    »Pierre ist aber sehr still heute«, sagte sie.
    »Er war ja gestern Abend auch wieder auf dem Friedhof«, erwiderte Hervé Dutour und zeichnete stilisierte kleine Bäume neben die Vorderansicht eines Hauses. »Heute Nachmittag wird er schon wieder auftauen.«
    Aber das war ein Irrtum. Mittags hatte Pierre die Aufforderung von Dutour abgelehnt mit ihm und Canauff in einem Selbstbedienungsrestaurant in der Nähe zu essen. Er zog es vor, allein in sein altgewohntes kleines Restaurant zu gehen, wo er ohne Appetit das Menu aß, ohne auch nur die Speisekarte betrachtet zu haben.
    Er empfand Christines Gegenwart so stark, dass die Wirklichkeit daneben fast schemenhaft war. Sein Schmerz um ihren Verlust war wieder aufgelebt und so heftig wie in den ersten Wochen nach ihrem Tod. Das war die Schuld des Alten, und er war ihm deswegen böse. Nur seinem dummen Geschwätz war es zuzuschreiben, dass alles Leid, mit dem sich Pierre schon beinahe abgefunden hatte, jetzt wieder schmerzhaft und frisch war und ihn quälte. Pierre war von Natur aus gutmütig, aber sobald er an Bornimus dachte, ballten sich seine Hände unwillkürlich zu Fäusten. Und sein Entschluss keimte in ihm wie Unkraut, das sich schnell im ganzen Garten ausbreitet: Heute Abend wollte er wieder zum Friedhof gehen. Dabei hätte er noch am Tag zuvor geschworen, dass er es nicht tun würde.
    Als es sechs Uhr abends war, stand seine Entscheidung fest. Selbstverständlich ging er nicht hin, um sich den Unsinn des alten Narren anzuhören und etwa von der Wiedererweckung eines Toten zu überzeugen, sondern er ging hin, um ihm energisch die Meinung zu sagen. Vielleicht brachte er ihn sogar zu dem Wächter, damit dieser erfuhr, was auf seinem Friedhof vor sich ging.
    Pierre wollte es sich nicht eingestehen, dass er eigentlich hinging, um sich von dem seltsamen Gedanken zu befreien, die der Alte in ihm erweckt hatte. Wenn er ihm gehörig die Meinung sagte, würde ihm dieser wohl auch gestehen, dass seine unglaublichen Behauptungen nur dazu dienen sollten, den Dummen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Pierre wollte es nicht wahrhaben, dass ihn irgendetwas unwiderstehlich zum Friedhof trieb. Und so redete er sich ein, dass es nur der Wunsch war, dem alten Mann seine Meinung zu sagen.
    Kurz vor sechs, als Pierre sich gerade in einem anderen Büro auf hielt, schlug Canauff seinem Kollegen Dutour vor, Merlin noch zu einem Glas Wein einzuladen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie hatten bemerkt, dass er nur jeden zweiten Tag zum Friedhof ging. Da er am Abend zuvor dort gewesen war, nahmen sie an, dass er heute frei sein würde.
    Aber als Pierre um Punkt sechs eilig zum Kleiderhaken trat, Hut und Mantel ergriff und davon stürzte, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen, wechselten die Kollegen bekümmerte Blicke.
    »Jetzt geht er also schon täglich hin«, sagte Dutour.
    Brigitte Dubois schüttelte besorgt den Kopf.
     

     
    Während Pierre Merlin die Treppe hinunterlief, knöpfte er seinen Mantel zu und drückte sich den Hut auf den Kopf. Er trat in den Straßenlärm hinaus und machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg. Es war noch kälter als am Abend zuvor, und manchmal stand ihm der Atem als Wolke vor dem Mund. Ohne an etwas Bestimmtes zu denken, schritt er rasch dahin, bis er sich vor dem hohen Gittertor des Friedhofs befand.
    Einen Moment blieb er zögernd stehen, doch dann durchschritt er entschlossen den Eingang und ging die lange, von Eiben eingesäumte Mittelallee entlang, die von den wenigen Lampen schwach erhellt war. Heute wehte kein Wind. Absolute Stille herrschte in der steinernen Landschaft. Nicht einmal der Straßenlärm drang bis
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