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003 - Der Totentanz

003 - Der Totentanz

Titel: 003 - Der Totentanz
Autoren: Alphonse Brutsche
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den ersten Wochen nach Christines Tod hatte Merlin ihr Grab nicht so häufig besucht. Damals ging er regelmäßig am Sonntagvormittag zum Friedhof, um frische Blumen hinzubringen, wie es viele Leute tun. Doch mit der Zeit wurde ihm immer stärker bewusst, wie sehr er Christine vermisste. Es schien ihm immer unerträglicher, in die einsame Wohnung zurückzukehren, in der er nun nie mehr die Schritte und die Stimme seiner geliebten Frau vernehmen sollte.
    Pierre Merlin hatte keinerlei Interessen, die ihm seine Einsamkeit hätten erleichtern können. Er ging nicht gern aus, besuchte fast nie ein Kino und hatte keinen vertrauten Freund, bei dem er sich Trost holen konnte. Er las sehr wenig, hörte selten Radio und besaß keinen Fernsehapparat. Eigentlich hätte sein schwerer Verlust ihn dazu bringen können, sich der Musik, Büchern oder anderen Zerstreuungen zuzuwenden, aber das alles lag ihm nicht.
    So hatte er denn die sonderbare Gewohnheit angenommen, fast täglich Christines Grab aufzusuchen. Schließlich wurde das zu seinem einzigen Lebensinhalt, abgesehen von seiner Arbeit, von Schlafen und Essen.
    Die Straße, die zum Friedhof führte, sah nicht so trübselig aus wie viele andere, weil es in ihr zahlreiche Blumengeschäfte gab. Im Sommer oder bei schönem Wetter hatte sie fast einen fröhlichen, ländlichen Charakter.
    Jetzt allerdings, an diesem trüben Novemberabend, sah der Friedhof alles andere als einladend aus. Dennoch hätte es Merlin nicht mehr fertig gebracht, Christines Grab länger als achtundvierzig Stunden fernzubleiben.
    Als er durch das große Tor des Friedhofes schritt, schlug es vom nahen Kirchturm halb sieben. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Aus dem Pförtnerhäuschen fiel Licht. Pierre Merlin hatte ab und zu ein paar Worte mit dem alten Wächter gewechselt. Er war ein freundlicher Mann, der ihn schon vom Sehen kannte. Er schien sich auch nicht darüber zu wundern, dass Pierre so oft kam.
    »Sie haben ganz recht«, hatte er einmal zu Merlin gesagt. »Ein Friedhof ist gar kein so trauriger Ort. Die meisten Menschen denken das, aber es ist ein Irrtum. Hier ist es auch viel ruhiger als sonst überall. Und alle Besucher benehmen sich gut.«
    Merlin war völlig seiner Meinung.
    Heute war der Wächter nirgends zu sehen. Das war nicht weiter verwunderlich, denn der Abend war recht kühl. Außerdem hatte das Fernsehprogramm schon angefangen.
    Merlin ging den breiten Mittelweg entlang, der hier und dort von einer Lampe schwach erhellt war. Die Seitenwege waren gar nicht beleuchtet. Es lohnte sich wohl nicht, da der Friedhof ohnehin um sieben Uhr geschlossen wurde und es um diese Zeit kaum Besucher gab.
    Merlin musste etwa dreihundert Meter weit den Mittelweg entlanggehen und dann links in den 23. Weg einbiegen, um zum Familiengrab der Ferriers und Merlins zu kommen. Ein heftiger Windstoß ließ ihn frösteln. Er zog den Kragen seines Mantels höher. Jetzt fielen auch ein paar Regentropfen.
    Bald wird es noch kälter sein, dachte er, und dann kommt der Schnee. Es bekümmerte ihn, dass er Christine dann nicht mehr so oft besuchen konnte.
    Am Grab war es sehr finster, aber er kannte ja nun schon jeden Fußbreit Boden. Die dunklen Silhouetten der großen Grabmäler hoben sich vom Hintergrund ab. Dort wies ein steinerner Engel nach oben, hier erkannte man die Umrisse eines Kreuzes. Am Boden war in der Finsternis kaum etwas zu erkennen. Nur der Rand eines helleren Grabsteins zeichnete sich bisweilen in der Dunkelheit ab.
    Noch ein paar Schritte, und er war am Ziel.
    Das Grab war ziemlich klein. Zu beiden Seiten befanden sich zwei große Marmorgrüfte. Das Familiengrab der Merlins war mit einem Rand von hellem Kies eingefasst. Auf einer Marmorplatte standen vorne rechts eine Bronzevase und hinten in der Mitte ein großer Steinkrug. Auf der Grabplatte waren ein Kreuz und die Namen der Verstorbenen eingraviert. Doch das sah man jetzt in der Dunkelheit nicht.
    Pierre Merlin beugte sich über die Platte, die Hände tief in den Taschen vergraben.
    »Guten Abend, Christine«, sagte er. »Wie geht es dir?«
    Er war sich selbst nicht im Klaren darüber, ob er die Worte laut gesprochen oder nur gedacht hatte. Aber wie laut oder leise er auch mit Christine redete, sie konnte ihm keine Antwort mehr geben.
    Das hinderte ihn jedoch nicht daran, sich mit ihr zu unterhalten. Er musste eben für sie mitsprechen. Wenn man das eine Zeitlang tat, glaubte man, eine regelrechte Unterhaltung zu führen.
    »Guten Abend,
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