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0022 - Der Todesfluß

0022 - Der Todesfluß

Titel: 0022 - Der Todesfluß
Autoren: Horst Friedrichs
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er erwachte. Noch benommen, versuchte er, mit seinen Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Verdammt, welcher Narr wollte um diese Zeit noch übergesetzt werden? Da war nichts zu sehen. Diese elende Finsternis war wie schwarze Tinte…
    Robert richtete sich mit einem Ruck auf, als er die Bettdecke und die Matratzen spürte. Seine Hand tastete nach rechts. Er fand Maries weichen Oberarm. Draußen zerrte der Wind am Fensterladen, verursachte ein stetes Klappern. In der kleinen Schlafkammer war es stockdunkel. Wie immer. Sie schliefen stets bei geschlossenen Läden.
    »Teufel auch«, murmelte Robert benommen, »das muß wohl die Aufregung gewesen sein.« Anders konnte er sich den Traum nicht erklären. Sonst hatte er zwar Nerven wie Drahtseile, und nichts konnte ihn umwerfen. Aber die neue Arbeit als Fährmann bedeutete eben doch eine so grundlegende Wende in seinem Leben, daß er schon mal leicht aus der Fassung geraten konnte. Er hielt es für verzeihlich, obwohl er sich sonst niemals Schwächen zugestand.
    Seufzend ließ er sich zurück in die Federn sinken.
    Unvermittelt rüttelte der Wind heftiger an den Fensterläden. Die Böen, die über den Hof fauchten, verursachten ein dumpfes Raunen.
    »Hooool’ über!«
    Die Stimme klang jetzt deutlicher. Und verzweifelter. Wie die eines Menschen, der sich in höchster Not befand. Jemand, für den alles davon abhängen mußte, jetzt über den Fluß zu gelangen. Jetzt, in diesen Minuten.
    Robert Levin war mit einem Satz aus dem Bett. Im nächsten Moment verharrte er erschrocken. Er durfte Marie nicht aufwecken. Besorgt drehte er sich um. Nein, ihre Atemzüge waren ebenso regelmäßig wie zuvor. Robert war erleichtert. Garantiert würde sie sich Sorgen machen, wenn sie mitbekam, daß er jetzt noch an den Fluß ging. Er erinnerte sich an ihre unbegründete Angst davor, daß er noch einmal das Haus verlassen könnte.
    Die Sturmböen ließen so plötzlich nach, wie sie gekommen waren.
    Und wieder erscholl die Stimme, die aus dem Nichts zu dringen schien – flehentlicher, fordernder jetzt.
    »Hooool’ über… hooool’ über …«
    Ein tiefer Seufzer folgte dem Ruf. Sein Mitgefühl und seine Hilfsbereitschaft waren wachgekitzelt. Er spürte nicht, daß ein fremder Wille in sein Unterbewußtsein vorgedrungen war, sich seiner Gedanken bemächtigte und diese lenkte. Er war nicht mehr fähig, Mißtrauen zu empfinden, geschweige denn, über sein eigenes Handeln nachzudenken.
    Ihn trieb allein der drängende Wunsch, jener armen Seele dort am anderen Flußufer zu helfen.
    Lautlos huschte Robert aus der Schlafkammer. Im Nebenraum schliefen seine beiden Jungen. Der sechsjährige Marc und der achtjährige Serge. Hier war der Fensterladen offen. Robert konnte im schwachen Mondlicht das blonde, matt schimmernde Haar seiner Söhne erkennen. Stolz erfüllte ihn.
    Doch schon im nächsten Moment gewann wieder die Eile, den Fluß zu erreichen, die Oberhand. Geräuschlos verließ Robert den Schlafraum seiner Söhne und kleidete sich im Vorflur an, wo seine Sachen an den hölzernen Garderobenhaken hingen. Er vergaß nicht die chromblitzende Stabtaschenlampe, die er sich extra für die neue Arbeit gekauft hatte. Bald wurden die Tage rapide kürzer, und dann würde er auch bei Dunkelheit auf der Fähre arbeiten müssen. Er hatte nicht geahnt, daß er die Lampe schon jetzt brauchen würde.
    Von seiner Familie unbemerkt, verließ Robert das Haus. Rasch überquerte er den Hof und erreichte die Straße, deren Kopfsteinpflaster feucht und glitschig war.
    Wieder erscholl die Stimme aus dem Nichts.
    »Hooool’ über, Fährmann!«
    Fährmann! Robert vernahm es mit Genugtuung. Er durfte sich angesprochen fühlen – als ein Mann, der eine wichtige Aufgabe erfüllte. Nicht länger war er der unbedeutende Handlanger auf dem Hof seines Bruders.
    Ja, es schien sogar, als hätte jetzt leise Hoffnung aus der flehentlichen Stimme geklungen. Der da drüben, am jenseitigen Ufer, schien zu merken, daß ihm endlich geholfen wurde. Robert begriff nicht, daß die Stimme nicht vom Fluß kommen konnte, denn er war noch einen halben Kilometer von der Rhône entfernt. Ebensowenig konnte er begreifen, daß eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen hatte.
    Er beschleunigte seine Schritte, begann zu rennen. Die eisenbeschlagenen Absätze seiner Stiefel schlugen auf das Kopfsteinpflaster und erzeugten in den engen Straßen zwischen den Fachwerkhäusern einen hellen, scheppernden Nachhall. Robert erreichte die Kreuzung im
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