002 - Der Hexenmeister
Michel Dosseda im geheimen den Prozess machen wollte – noch diese Nacht.
Hervé kam noch einen Augenblick mit zu mir hinauf. Jean de la Brune trennte sich von uns mit den Worten:
»Ich will sehen, ob ich noch etwas erfahre. Wenn ich etwas höre, komme ich zurück und sage Euch Bescheid.«
Doch wir brauchten seine Rückkehr nicht abzuwarten, um zu erfahren, was geschehen war. Trotz der späten Stunden waren noch viele Menschen auf den Straßen. Von meinen Fenstern aus hörten wir lautes Stimmengewirr. Liefen die Menschen etwa schon zur Richtstätte? War das Urteil schon gefällt?
Voller Angst warteten wir. Dann hörten wir den Lärm einer näher kommenden Menge. Trommelwirbel und eine Glocke erklangen. Es war der öffentliche Ausrufer. Hervé drückte meinen Arm. Wir ahnten schon, was er verkünden würde.
Überall wurden die Fensterläden aufgestoßen. Männer und Frauen mit Nachtmützen beugten sich aus den Fenstern. Das Stimmengewirr auf der Straße wurde vom Ausrufer übertönt, der verkündete – mit offensichtlicher Befriedigung, wie man seiner Stimme anmerken konnte – dass der teuflische Hexenmeister Michel Dosseda verurteilt worden war, lebendig verbrannt zu werden. Am nächsten Vormittag um zehn Uhr sollte das Urteil auf dem Platz vor Notre-Dame vollstreckt werden. Die Pariser wurden aufgefordert, an diesem Schauspiel teilzunehmen.
Ich spürte, dass ich am ganzen Leibe zitterte.
»Wir müssen etwas tun«, sagte Hervé. »Wir müssen irgendetwas unternehmen. Wenn ich nur wüsste, was. Wir können den Meister doch nicht im Stich lassen. Irgendwie müssen wir versuchen, seine Hinrichtung zu verhindern. Komm!«
Auf der Straße trafen wir Jean de la Brune, der gerade zu uns kommen wollte, um uns zu unterrichten. Zu dritt gingen wir zu dem Haus am Fluss. Wie sollten wir Lionnel und Laura nur die furchtbare Mitteilung machen?
Doch als wir eintrafen, wussten sie schon Bescheid. Sie hatten sich verkleidet und waren in die Stadt gegangen, denn sie hatten geahnt, dass sich bald etwas Entscheidendes ereignen würde. Sie hatten die Ungewissheit nicht länger ertragen können. Jacques Vel, Hyacinthe Perrot, Pierre Tresmissec und einige andere erschienen kurz nach uns.
Lionnels schöne Züge waren vom Leid gezeichnet – und auch vom Zorn. Ich spürte, dass er bereit war, jedes Risiko auf sich zu nehmen, um seinen Vater zu retten. Laura lag in einem Sessel und blickte starr vor sich hin. Ich drückte ihr stumm die Hände, und sie wandte mir ihr bleiches Gesicht zu.
Jacques Vel, der in den vorangegangenen Tagen so niedergeschlagen gewesen war, wuchs in dieser Stunde über sich selbst hinaus. Von seinem breiten Gesicht und seinem stämmigen Körper schien eine Kraft auszugehen, die uns alle mitriss, »Wir dürfen es nicht zulassen!« rief er heftig. »Er darf nicht sterben. Aus edelmütigen Gründen hat der Meister nicht zugelassen, dass wir die unsichtbaren Kräfte einsetzen, um Pater Hieronymus zu befreien. Jetzt dürfen wir nicht länger zögern. Wir müssen sie benutzen, um ihn vor diesem furchtbaren Ende zu retten. Die Männer, die ihn gefangen genommen haben, sind nicht in die Kellergewölbe eingedrungen, weil sie den Zugang nicht gefunden haben. Dort sind die Figuren, die uns helfen werden, den Meister zu befreien. Ich weiß, dass dieses Unternehmen sehr gefährlich ist, da der Meister nicht bei uns ist, um uns zu leiten. Vielleicht wird es uns nicht gelingen, die unsichtbaren Kräfte zu lenken. Vielleicht werden wir sogar ihre Opfer sein. Das darf uns aber nicht daran hindern, den Versuch zu wagen, mit ihrer Hilfe den Meister zu befreien.«
Lionnel sprang auf und drückte Jacques Vel die Hand. »Ich danke Euch, mein Freund«, sagte er. »Ihr habt vollkommen recht. Wir müssen handeln. Jetzt gleich.«
Er sah uns fragend an. Ich war der erste, der sagte:»Ja, ich bin einverstanden.«
Auch die anderen stimmten zu, obwohl sie wussten, dass unser Vorhaben lebensgefährlich war. Vergeblich baten wir Laura, uns bei unserem Unternehmen nicht zu begleiten.
»Ich gehöre ebenso dazu wie ihr«, sagte sie. »Ihr dürft mich nicht zurückweisen.«
Wir brachen sofort auf, doch immer nur in kleinen Gruppen, zu zweit oder zu dritt. Auf verschiedenen Wegen näherten wir uns dem Haus des Meisters. Ich begleitete Lionnel und Laura.
In Paris waren die Menschen inzwischen zu Bett gegangen. Zwei, dreimal mussten wir einen Umweg machen, um den Männern der Wache auszuweichen.
Das Haus des Meisters betraten wir durch
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