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Autoren: Peter Pan
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ob ein Höfling das dargestellte Gefühl tatsächlich auch fühlte oder nicht. Im Gegenteil, der Adel hielt gerade das »distinguierte Spiel mit Emotionen« (Böhme, 1997, S. 538) für besonders kultiviert, galt es doch die eigenen Ziele und Verwundbarkeiten im höfischen Ränkespiel geschickt zu verbergen. Die Kontrolle der eigenen Gefühle gehörte zu den zentralen Forderungen adeliger Lebensführung (Meise, 2000). Allerdings war seit der Reformation auch schon eine andere Auffassung in der Welt: Die evangelische Kirche setzte in Abgrenzung vom »falschen« Pomp katholischer Gottesdienste die Darstellung religiöser Gefühle schon früh unter Inszenierungsverdacht. Kriterium wahrer (v. a. lutherischer) Frömmigkeit war das innige und innere religiöse Erlebnis, das durch keinerlei Äußerlichkeiten gestört werden sollte. Noch heute kann man diese Unterschiede beispielsweise an der größeren Zahl von Pelzmantelträgerinnen bei katholischen Gottesdienstbesucherinnen im Vergleich mit ihren schlichter gekleideten evangelischen Glaubensschwestern beobachten.
    Aus diesem Verständnis heraus entwickelte das Bürgertum in der Aufklärung und noch stärker in der Romantik ein den Gefühlsregeln des Adels diametral entgegengesetztes Regelwerk: Gefühle mußten authentisch sein, bloße Darstellungen wurden als affektiert bezeichnet und galten als unaufrichtig. Und je entfernter das Bürgertum von der politischen Teilhabe war, um so ausgeprägter wurde dieser Innigkeitskult. »Das Bürgertum entwickelte ... Techniken des Enthüllens, aber der innigen Lektüre von Gefühlen: Vertrauen und Intimität werden kultiviert, so daß Gefühle gleichsam nackt erscheinen und damit das ›Wesen‹ der Person anzeigen dürfen« (Böhme, 1997, S. 539). Der sich aus diesem Verständnis von Gefühlen entwickelnde Freundschaftskult der Romantik kann als besonders herausragendes Beispiel dafür angesehen werden (vgl. van Dülmen, 2001b).
    Solche Veränderungen der Gefühlskultur haben natürlich mit der Reformation nicht aufgehört, sie geschehen immer und überall und sind oft genug mit massiven Konflikten verbunden. Auch unsere gegenwärtige Gesellschaft befindet sich in einem Prozeß des kontinuierlichen Wandels: Konstatiert wird von Emotionssoziologen (vgl. dazu Flam, 2002; Mestrovic, 1997), daß die Affektkontrolle an Bedeutung verloren habe, die Schamgrenzen gesunken seien und – was die Darstellung angeht – das Ausstellen von emotionalen Befindlichkeiten zunehmend akzeptiert werde. Allein auf die Darstellungsregeln bezogen, lassen sich diese Veränderungen auch als das allmähliche Verschwinden der bürgerlichen Emotionskultur mit ihren Authentizitätsansprüchen lesen: Gefühle werden gegenwärtig nicht nur ausgelebt, sondern immer und zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder Situation, unter allen Himmeln und in jedem Alter dargestellt. Angesichts von sozialen Phänomenen wie diversen Love Parades, Christopher-Street-Days oder öffentlichen Begrüßungen siegreicher Spitzensportler kann man durchaus den Eindruck gewinnen, es handele sich dabei nicht mehr nur um einen moderaten Wandel, sondern eher um eine emotionale Revolution. Zu fragen ist also auch und gerade hier: Wo liegen die Gründe hier und heute? An den angeführten Beispielen wurde ja schon deutlich: Wandel der Gefühlskultur ist immer Ausdruck eines Wandels in der Gesellschaft. Was also hat sich in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich bei uns verändert?
    Eine Veränderung wird mit dem Begriff Individualisierung bezeichnet. Er stammt von dem Soziologen Ulrich Beck (1986) und meint, daß »... wir Augenzeugen eines Gesellschaftswandels innerhalb der Moderne sind, in dessen Verlauf die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslage von Männern und Frauen – freigesetzt werden, ähnlich wie sie im Laufe der Reformation aus der weltlichen Herrschaft der Kirche in die Gesellschaft ›entlassen‹ wurden ... In allen reichen westlichen Industrieländern – besonders deutlich in der Bundesrepublik Deutschland – hat sich in der wohlfahrtsstaatlichen Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg ein gesellschaftlicher Modernisierungsschub von bislang unerkannter Reichweite und Dynamik vollzogen (und zwar bei weitgehend konstanten Ungleichheitsrelationen). Das heißt: Auf dem Hintergrund eines vergleichsweise hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebenen sozialen Sicherheiten wurden die Menschen in einem
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