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Titel:
Autoren: Peter Pan
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Zufriedenheit verläuft, denn »... es freute ihn nichts, kein Bild, kein Haus, keine Musik, kein Tanz, sein Herz von Stein nahm an nichts Anteil und seine Augen, seine Ohren waren abgestumpft für alles Schöne. Nichts war ihm mehr geblieben als die Freude an Essen und Trinken und der Schlaf, und so lebte er, indem er ohne Zweck durch die Welt reiste, zu seiner Unterhaltung speiste und aus Langeweile schlief« (a.a.O., S. 54). So hatte er sich das gute Leben nicht vorgestellt. Zurück im Schwarzwald, beklagt er sich umgehend beim Holländermichel: »... ich erzürne mich nie, bin nie traurig, aber ich freue mich auch nie, und es ist mir, als wenn ich nur halb lebte. Könnet ihr das Steinherz nicht ein wenig beweglicher machen?« (a.a.O., S. 55)
    Sein Vertragspartner geht darauf nicht ein, rät ihm statt dessen, den Müßiggang zugunsten einer geregelten Arbeit aufzugeben. Peter Munk folgt diesem Ratschlag und läßt sich als Korn- und Geldhändler nieder. Und siehe da, für diese Tätigkeit erweist sich sein steinernes Herz als ausgesprochen passend. Nur mit einem kalten Herzen kann man Schuldner aus ihren Häusern vertreiben, Bettler verjagen und die eigene Mutter trotz ihrer Gebrechlichkeit mit Almosen abspeisen. Seinem Unternehmen aber tat das gut: »Der halbe Schwarzwald wurde ihm nach und nach schuldig« (a.a.O., S. 56).
    Was soll das Märchen, als Kind von vielen mit sanftem Erschauern auf dem Schoß der Großmutter gehört, lehren? Vermutlich dies: Der Schwarzwald war zur Zeit der Publikation der Geschichte im Märchenalmanach auf das Jahr 1828 noch eine weitgehend landwirtschaftlich und handwerklich geprägte Region, vergleichsweise wenig erschlossen und mit einer bodenständigen, familien- und standesgebundenen Bevölkerung. Man war zufrieden mit dem, was man hatte, man blieb im Lande, und man nährte sich redlich. Anderswo aber, in Holland z.B., hatte sich die moderne Industriegesellschaft bereits fest etabliert.
    Sie aber verlangte einen ganz anderen Menschenschlag als den vorindustriellen Kleinbürger, nämlich den gewinnorientierten »homo oeconomicus«. Für dessen Geschäfte sind Gefühle, besonders aber Mitleid und Nächstenliebe, nichts als störend (Schwarz, 1983). Dieser Typus dringt in der Figur des Holländermichel auch in den Schwarzwald ein: »Vor etwa hundert Jahren ... war weit und breit kein ehrlicher Volk auf Erden als die Schwarzwälder. Jetzt, seit so viel Geld im Land ist, sind die Menschen unredlich und schlecht. Die jungen Burschen tanzen und johlen am Sonntag und fluchen, daß es ein Schrecken ist. Damals war es aber anders .,. der Holländermichel ist schuld an all dieser Verderbnis«, läßt Wilhelm Hauff einen Großvater sagen (a.a.O., S. 20). Und das zeigt sich so: Zunächst als eingewanderter Waldarbeiter und Flößer bei einem Holzherrn tätig, hatte der Holländermichel bald seine Mit-Flößer aufgestachelt, eigentlich für Köln bestimmtes Holz seines Arbeitgebers auf eigene Rechnung direkt nach Rotterdam zu flößen und es dort um einen vierfachen Preis zu verkaufen. Das Geschäft gelang, sogar mehrfach, aber »... unvermerkt kamen Geld, Flüche, schlechte Sitten, Trunk und Spiel aus Holland herauf« (a.a.O., S. 23). Der neue Mensch – so läßt sich das Märchen lesen – will Geld, Konsum und Unterhaltung, auch wenn es auf Kosten anderer geht. Oder kurz gesagt: Wer in der kapitalistischen Industriegesellschaft erfolgreich sein will, der braucht ein kaltes Herz.
    Was Hauff 1828 literarisch erahnt hat, wird in der modernen Psychologie heute so erklärt: In der Figur des Peter Munk kündigt sich das Entstehen eines neuen Sozialcharakters an. Dieser Sozialcharakter ist ein allen Menschen in spezifischen Epochen und sozialen Gruppen gemeinsames System von Gewohnheiten, Gefühlen und Idealen, das durch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse einer bestimmten Epoche hervorgebracht wird. Er entwickelt sich in steter Interaktion mit individuellen Lebenslagen und genetischen Anlagen zum Gesamtcharakter oder der Persönlichkeit eines Menschen (Fromm, 1996).
    Ein Beispiel dafür ist der nervöse Charakter (Radkau, 1998), der in der Zeit zwischen Bismarck und Hitler entstanden ist. Auf die technologische und industrielle Modernisierung, das Entstehen der modernen Massenmedien und die politischen und gesellschaftlichen Krisen reagierten die Menschen mit Symptomen, die von den Ärzten jener Zeit als Nervosität, Nervenschwäche oder Neurasthenie diagnostiziert wurden.
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