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Zwielicht über Westerland

Zwielicht über Westerland

Titel: Zwielicht über Westerland
Autoren: Laura Lindwegen
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Mal den Haargummi von ihrem flachsfarbenen Zopf zerrte, um ihn anschließend wieder umzubinden.
    Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet?
    „Waren Sie schon einmal auf Sylt?“, unterbrach sie eine ältere Dame in ihren Gedanken. Sie saß ihr gegenüber und hatte sie seit einer Stunde stur beobachtet, anstatt sich die Schönheit und flache Weite Nordfrieslands anzusehen.
    Sophie wollte sich diesen Augenblick nicht zerstören lassen, zu oft hatte sie ihn sich ausgemalt.
    „Ja, aber das ist viele Jahrzehnte her. Ich bin dort geboren und aufgewachsen“, gab sie betont höflich zurück.
    Sichtlich irritiert über die Antwort der jungen Frau, die vielleicht in den Zwanzigern war, schaute die Dame nun doch aus dem Fenster und schwieg.
    Erleichtert lächelte Sophie in sich hinein. Sie wollte sich nicht unterhalten, jetzt, wo sie auf die Insel auffuhren. Sie wollte jeden Strauch, jedes Haus, jeden Weg, einfach alles in sich aufnehmen, mit ihren Blicken in sich hineinsaugen. Endlich durfte sie wieder in ihre Heimat fahren, dort sogar leben und arbeiten.
    Sie war sich klar darüber, dass sich alles verändert haben würde. Trotzdem, hier war sie geboren, hatte eine relativ glückliche Kindheit mit ihrem Bruder Jan erlebt, hatte mit Freundinnen die Schule besucht, den ersten Kuss am Strand bekommen. Alle wirklich wichtigen Ereignisse in ihrem Leben hatten hier ihren Anfang. Alle Not, jeder Verlust hatte hier begonnen.
    In ihr war noch eine kleine, leise Stimme, die zufügte: „Ich hoffe, hier schließt sich der Kreis.“ Aber die Stimme der Hoffnung versuchte Sophie meist zu überhören. Dann würde die Enttäuschung später nicht so groß ausfallen, sagte sie sich.
    Gern wäre sie aufgesprungen und hätte sich die Nordseeluft durch Nase und Haare pfeifen lassen, aber die modernen Wagons hatten heute keine Fenster mehr, die sich öffnen ließen.
    Das Knacken der Lautsprecheranlage riss sie aus ihren Gedanken. „…dort endet unsere Fahrt. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt“, ertönte die Stimme des Zugbegleiters.
    Sie hatte versucht, sich innerlich zu wappnen, hatte sich wieder und wieder ermahnt, dass sich alles verändert haben würde. Sich ausgemalt, wie es sein könnte. Nun war alles ganz anders.
    Überrascht und etwas ratlos stand sie zwischen den zirka sechs Meter großen, grünen Reisenden vor dem Bahnhofsgebäude. Manche hatten ihre Gesichter irgendwie verkehrt herum und schienen gegen einen, an diesem Tage nicht vorhandenen, Wind zu laufen.
    Während Sophie sich noch fragte, ob schon einmal jemand so verblüfft über diese Kunst gewesen war, dass er auf die direkt dahinter liegende und viel befahrene Straße gelaufen war, entdeckte sie erleichtert eine Reihe wartender Taxis.
    „Moin, zum Südwäldchen bitte“, bat sie atemlos, denn auch, wenn es schon Abend war, machte ihr die Augustsonne stark zu schaffen.
    Zehn Minuten später stand Sophie bereits in ihrer neuen Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines gelben Blockes.
    Sie fand das Haus ziemlich hässlich, aber die Wohnung war günstig gelegen, und von dem kleinen Balkon aus schaute sie direkt auf das Südwäldchen und die dahinter liegenden Dünen.
    Die Umzugsfirma, die vom Umsiedlungsbüro beauftragt worden war, hatte gute Arbeit geleistet. Ihre wenigen aber antiken Möbel standen unbeschädigt so, wie sie es in den Grundriss der Wohnung eingezeichnet hatte. Es war auch nicht anders zu erwarten gewesen, denn die Umzugsfirma arbeitete immer präzise.
    Seufzend blickte sie auf die unzähligen Umzugskartons. Die würde sie allein auspacken müssen. Bis Arbeitsantritt hatte sie noch drei Tage Zeit, bis dahin sollte es zu schaffen sein, tröstete sie sich. Außerdem hatte sie eine gewisse Erfahrung darin, war es bereits ihre fünfte Umsiedlung.
    Der schrille Ton eines fünfzig Jahre alten Telefons riss sie aus ihrer Erinnerung. Sie wusste, wer sie anrief und zögerte kurz. Dann ging sie doch an den Apparat.
    „Guten Abend, meine Liebe. Hier spricht Alexander. Ich wollte mich nur kurz nach deiner Reise erkundigen. Ist alles nach deinen Wünschen verlaufen?“, ertönte die ihr bekannte Stimme aus dem Hörer.
    Sophie rollte die Augen in Richtung Zimmerdecke.
    Alexander Westphal würde nie lernen, normal zu sprechen. Manchmal glaubte man fast, er sprach mit voller Absicht in diesem angestaubten Deutsch. Sie alle mussten von Zeit zu Zeit einen Rhetorikkurs belegen, aber an ihm schien alles abzuperlen. Vielleicht war es auch einfach nur seine Art
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