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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht
Autoren: Blazon Nina
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fuhr sein Onkel fort.
    »Wieso? Ist die Heizung wieder kaputt?«
    Obwohl er erst ein paar Tage hier war, war das schon ein Running Gag zwischen ihnen. Allein gestern hatte die Heizung zweimal gestreikt. Matt grinste. »Nein, ich mache die Treppe neu. Wir reißen die Stufen raus und ersetzen sie durch Metallstiegen. Bis dahin stellen wir eine Leiter hin. Außerdem sollten wir uns das Dach ansehen. Anfang September gab es ja schon mal einen Sturm, und ich glaube, die Dachpappe hat etwas abbekommen und ist an einer Stelle lose. Wenn es stimmt, dass wieder ein Sturm im Anzug ist, fliegt sie uns um die Ohren. Bist du schwindelfrei?«
    »Ziemlich.«
    »Gut.«
    Damit war alles gesagt, aber seltsamerweise blieb Onkel Matt im Zimmer stehen. Eine Weile starrte er nur unschlüssig aus dem Fenster, dann griff er in eine ausgefranste Seitentasche an seinem Werkzeuggürtel.
    »Ich … ähm … hab noch was für dich gefunden.«
    Es war ein kleines Stück gewelltes Papier, das Jay erst auf den zweiten Blick als Foto erkannte. In Matts Pranken wirkte es wie etwas sehr Zerbrechliches.
    Jay stand auf und nahm das Foto entgegen. Es stammte noch aus der Zeit, als Papierabzüge gemacht wurden. Die Farben waren ausgebleicht und am Rand prangte der verschmierte, rußige Fingerabdruck von Onkel Matts Daumen. Doch Jay bemerkte es kaum, denn das, was er sah, versetzte ihm einen kleinen, kalten Stoß in die Magengrube. Zwei junge, rothaarige Männer lachten ihn an. Die zwei Brüder. Onkel Matt noch drahtig und durchtrainiert und sicher hundert Pfund leichter. Und daneben – Jay musste blinzeln, weil seine Augen plötzlich brannten – sein Vater. Es war ein Schock, dass er auf diesem Bild kaum älter war als Jay. Natürlich wusste er, dass er seinem Vater ähnlich sah, aber auf diesem Bild war die Ähnlichkeit geradezu schockierend. Kein Wunder, dass Charlie ihren Sohn nicht anschauen konnte, ohne Robin Callahan vor sich zu sehen. Auf dem Foto hatte er zwar noch keine Tattoos an Stirn und Schläfen, aber er trug bereits eine Lederweste und hatte langes Haar, das ihm fast bis zum Gürtel fiel. Einige Federn waren darin eingeflochten und um seinen Hals hing eine Kette. Jay erkannte den Anhänger nicht im Detail, aber er wusste genau, was es war. Verstohlen berührte er die Stelle an seinem T-Shirt, unter dem der Anhänger auf seiner Haut lag. Das Silber schien wärmer zu sein als seine Haut, aber das war natürlich Einbildung.
    »Das sind wir vor der alten Werkstatt«, erklärte Matt. »Anfang der Neunziger. Da war Aidan gerade ein Jahr alt. Muss also so zwei, drei Jahre gewesen sein, bevor Robin deine Mutter kennengelernt hat.«
    Jay starrte immer noch das lachende Gesicht an. Er versuchte es mit dem rauen, herzlichen Mann in Einklang zu bringen, den er als Zehnjähriger zum ersten und einzigen Mal gesehen hatte. Aber dann gab es noch den Mann, den er nie gekannt kannte – und von dem er nur Morsezeichen in Form von Briefen und Postkarten besaß, Nachrichten aus einer Welt, in der Worte wie »Quest« und »Spirit« eine Rolle spielten.
    Die quälende Frage, die er an den Tagen so gut beiseiteschob, drängte sich wieder in den Vordergrund. Und diesmal holte er tief Luft und nahm seinen Mut zusammen.
    »Matt«, sagte er leise. »Glaubst du, er … er hat überhaupt gebremst?«
    Die eigentliche Frage wagte er nicht zu stellen: Glaubst du, er hat absichtlich auf den Abgrund zugehalten?
    »Bullshit«, brummte sein Onkel, als hätte er Jays Gedanken gehört. »Er hätte sich niemals umgebracht. Aber er hatte es nun mal mit der Gefahr. Und er war ein Idiot und dachte, er sei unverwundbar.« Er schnaubte durch die Nase, als würde er ein bitteres Lachen unterdrücken. »Teufel, das glaubte er wirklich. Ich sag’s nicht gern, schließlich war er mein Bruder und Gott weiß, ich habe ihn geliebt, obwohl er verrückt war und nur Ärger machte, aber im letzten Jahr war er wirklich völlig durchgeknallt.«
    Jay konnte ihm nicht widersprechen. In seinem Rucksack lag das Bündel Postkarten, die sein Vater ihm in den vergangenen drei Jahren geschickt hatte – eine wirrer als die andere. Und auch die letzte, zehn Tage vor seinem Unfall. Ein beängstigend düsterer Text, in dem sich immer wieder die Worte
    Wenn Wendigo über die Seele siegt
    wiederholten. Er endete mit den Sätzen:
    Es geht immer um das Abschiednehmen, Sohn.
    Wir müssen lernen, die Abschiede zu umarmen.
    Unterschrieben war die Karte mit dem neuen Namen, der seinen Vater endgültig zu
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