Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Lieblingsorten. Also, sollen wir uns in etwa einer halben Stunde treffen?«
    »Das passt mir gut. Mein Cottage ist das da drüben«, sage ich und deute darauf. »Bis dann.«
     
    Eine halbe Stunde später steht Dolores vor meiner Tür, und wir gehen rasch den Hügel hinauf aus dem Ort, biegen auf einen
     Feldweg ein, der uns über einen ziemlich steilen Anstieg führt. Nach wenigen Minuten schnaufe und keuche ich, während Dolores
     fröhlich weiterplaudert. »Das Leben hier ist hart«, sagt sie, als wir durch einen unordentlichen Scheunenhof voll mit behelfsmäßigen
     Landwirtschaftsgeräten, alten Fischreusen, ein paar Heuballen aus dem letzten Jahr und einigen kleinen dreirädrigen, für das
     zerklüftete Terrain geeigneten Fahrzeugen kommen. »Aber so voller Wirklichkeit, finden Sie nicht? Ein Großteil der Welt ist
     Illusion, doch Iona ist real. Darum komme ich immer wieder her.«
    »Wie oft waren Sie schon hier?«, frage ich.
    »Sechs oder sieben Mal. In meinem früheren Leben war ich Wissenschaftlerin, aber ich war so zugeschüttet mit Logik und Gedankenspielen,
     dass mir keine andere Wahl blieb, als etwas anderes zu finden, etwas, woran ich glauben konnte. Da ich Irin bin, faszinierte
     mich die keltische Denkweise. Schließlich sind sie meine Vorfahren. Und Sie?«
    »Mein Vater beharrte darauf, dass jeder diese Insel besuchen sollte. Und als ich dann eine Einladung von einer völlig Fremden
     bekam, wusste ich, dass ich sie annehmen musste.«
    Sie klopft mir auf den Rücken und wirft mir ein wissendes Lächeln zu, als wir die einspurige Straße erreichen, die zu unserem
     Ziel führt. »Was machen Sie beruflich?«, ruft sie mir durch den starken Wind zu.
    »Ich bin Schriftstellerin – ich habe einige Bücher für Frauengeschrieben, in denen ich aufzeige, wie sie ihr wahres Selbst finden, im Gegensatz dazu, wie alle anderen sie haben wollen.
     Aber irgendwie bin ich während der Verbreitung meiner Vorstellungen vom Weg abgekommen und brauchte Rettung.«
    »Da sind Sie an den richtigen Ort gekommen«, versichert sie mir. »Wie Sie vielleicht wissen, haben sich die Kelten über ganz
     Europa verbreitet, bis die Römer sie verjagten. Sie zogen sich immer weiter nach Norden und dann nach Westen zurück, um unzugängliche
     Orte zu finden, an denen sie leben konnten, Orte, an denen sie ihr Wissen bewahren konnten. Such dir etwas Abgelegenes, und
     man wird dich in Ruhe lassen. Genau das haben wir getan, nicht wahr?«, witzelt sie, hüpft jetzt beinahe wie ein glückliches
     Kind neben mir. »Ich bin auch Autorin«, sagt sie ungezwungen. »Mein erstes Buch hieß
The Breaking Point,
der Tiefpunkt.«
    »Hört sich an, als sollte ich es mir besorgen.«
    Sie ist eine kräftige Frau mit koboldhaftem Gesicht und freundlicher Art, bereit, weder sich noch jemand anderen zu ernst
     zu nehmen, bescheiden und offen zugleich.
    »Sie haben sich die beste Zeit ausgesucht«, fährt sie fort, als wir an einem Feld mit Narzissen vorbeikommen, die sich nach
     dem Frost der letzten Tage wieder erholt haben. »Früh ling ist die Zeit der Jungfräulichkeit – der Jugend, des Ausbringens der neuen Saat und der Anfang von allem.«
    »Das klingt gut«, antworte ich. »Ich feiere das Ende eines Jahrzehnts – und, wie ich hoffe, den Beginn von etwas Neuem.« Sie
     ist so freundlich, nicht danach zu fragen, was das sein könnte, und wir beide verfallen für eine Weile in Schweigen, bis ich
     stehenbleiben muss, um meine Kapuze überzustülpen und den Reißverschluss so hoch zu ziehen, wie es geht. Minuten später überqueren
     wir eine Wiese, die auch als Weide und Golfplatz dient. Dahinter erkenne ich eine wunderschöne Bucht und einen Streifen des
     Atlantiks, der heute wie die Karibik wirkt – ein tiefes Blau mit schaumiger weißer Brandung,die auf das Ufer und hoch aufgetürmte Steine zurollt, welche wohl schon vor Jahrhunderten angespült worden sind.
    »Hier trennen wir uns. Versuchen Sie zum Moor hinaufzusteigen. Da wird Ihnen ganz schnell warm werden«, sagt sie und deutet
     auf etwas, das in meinen Augen eher ein Berg denn ein Hügel ist. »Von dort aus hat man einen herrlichen Blick. Sie können
     bis hinüber nach Irland sehen! Bleiben Sie in Bewegung oder suchen Sie hinter einem Felsbrocken Schutz. Wir können uns gegen
     Mittag wieder treffen, wenn Sie wollen. Am hintersten Ende der Bucht befindet sich eine großartige Höhle. Bis dann?«
    Und damit geht sie los, klettert flink wie eine Bergziege zum Moor hoch, das sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher