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Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer
Autoren: dtv
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Satz zu formulieren, ist das eine, doch es ist etwas ganz anderes, mich in der Öffentlichkeit über diese Erfahrung zu
     verbreiten, und mich überkommt das Bedürfnis, den Frauen zu erzählen, dass ich nicht anders bin als sie. Auch ich bin voller
     Torheit und Widersprüchlichkeit, gehetzt vom häuslichen Leben und nicht immer so freundlich und optimistisch wie heute Abend.
     Mehr noch, meine Weisheiten stammen aus stundenlangen Gesprächen mit genauso normalen Frauen, wie sie es sind, die ebenfalls
     versuchen, mit ihrem Leben klarzukommen. Gerade als ich das Gefühl habe, dass mich die letzten vierundzwanzig Stunden wieder
     einholen, sehe ich sie: Denise, eine Frau aus einem meiner Workshops, die mir gesagt hatte, sie würde vielleicht kommen. Sie
     strahlt mich an, leuchtet regelrecht, obwohl sie eine hässlicheScheidung hinter sich hat. Als ich ihren Blick auffange, nickt sie mir zu und schenkt mir genau die Ermutigung, die ich in
     diesem Moment brauche.
    »Wer sind wir jenseits der Rollen, die wir spielen?«, frage ich das Publikum. »Das war die Frage, die ich mir vor Jahren gestellt
     habe, und ich nehme an, dass das heute Abend auch Ihre Frage ist.«
    Während ich die Worte ausspreche, fühle ich mich seltsam von mir losgelöst, als hätte sich eine Schauspielerin meines Körpers
     bemächtigt und den Text – glücklich darüber, ihn auf der Bühne vortragen zu können – perfekt einstudiert. Unterdessen nickt
     Denise immer weiter, scheint alles bestätigen zu wollen, was ich sage. Bevor ich es recht begreife, habe ich die Hälfte meines
     Vortrags hinter mir. Schließlich blicke ich an Denise vorbei und sehe auch in den Augen der anderen Frauen Erkenntnis aufblitzen.
     Ich spüre Aufgeschlossenheit für meine Ausführungen und komme mir vor, als säße ich tatsächlich mit Freundinnen an meinen
     Küchentisch. Diese Kameradschaftlichkeit ist es, die mich weitermachen lässt. Genau darum geht es, um die Wechselwirkung.
     Daher fahre ich fort.
     
    Die Analytikerin Jean Shinoda Bolen glaubte, wenn eine Frau am Scheideweg steht, würde die Heldin ihre eigenen Entscheidungen
     treffen wollen, während die Antiheldin sie lieber anderen überließe. Ich glaube, ich stehe hier vor einer Gruppe von Heldinnen   – Frauen, die mündig geworden sind und keine Erlaubnis von anderen mehr brauchen, um sich weiterzuentwickeln. Im Gegenteil,
     wir wollen die Stränge unserer Erfahrungen bündeln und sie zu einem neuen und farbenfreudigeren Wandteppich verweben. Mögen
     Sie alle bereit sein, immer wieder von Neuem zu beginnen. Keine unter Ihnen kann wirklich wissen, was sie als Nächstes tun
     soll, wenn sie sich nicht vom Alltäglichen trennt, um ihren Geist neu anzufeuern.
     
    Der Schlussapplaus ist eine Erleichterung. Diese Art Erregung in anderen zu wecken, ist unglaublich mitreißend. Vor Frauen
     zu sprechen, hat seine Vorzüge, denke ich, als ich zu einem Tisch und dem Bücherstapel gehe, den ich signieren werde.
    Denise steht als Erste in der Schlange, und ich springe auf, um ihr für ihre Ermutigung zu danken.
    »Ich danke dir«, flüstert sie, bevor ich etwas sagen kann. »Du warst perfekt – hast genau das gesagt, was ich heute Abend
     hören musste. Und deswegen habe ich eine Überraschung mitgebracht.«
    Ich blicke sie fragend an und überlege, was es wohl sein mag. Sie dreht sich dramatisch um und ruft: »Ta-ta!«
    Hinter einem Bücherregal kommen vier oder fünf Frauen hervor – eine Gruppe, die sich auf einem meiner Wochenend-Workshops
     kennengelernt hat und seitdem befreundet ist. Sie nennen sich die Salty Sisters. »Deine Motel-Reservierung haben wir storniert«,
     sagt Denise. »Wir übernachten in Leslies Strandhaus und haben bereits dein Bett gemacht.«
    Ich zögere kurz, dann fällt mir der letzte Satz meines Vortrags ein: »Niemand unter Ihnen kann wirklich wissen, was sie als
     Nächstes tun soll, wenn sie sich nicht vom Alltäglichen trennt, um ihren Geist neu anzufeuern.«
    »Warum nicht?«, antworte ich lachend. »Wird Zeit, dass ich mal etwas Spontanes mache. Außerdem ist es laut dem verstorbenen
     Theologen William Sloan Coffin gelegentlich ›gesegneter, zu nehmen als zu geben‹, zumindest erfordert das mehr Bescheidenheit.«

In der Gesellschaft von Frauen
    Anfang Oktober
    Bei einer echten Entdeckungsreise geht es nicht darum, neue
    Länder zu entdecken, sondern sie mit neuen Augen zu sehen.
     
    Marcel Proust

Mehrere Stunden später fahren wir einen dunklen Feldweg entlang,
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