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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir
Autoren: Nazneen Sheikh
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Shah Suri ließ diese Straße 1530 bauen. Er nannte sie Gernali Sarak und Sarake-Azam, was »Straße des Herrschers« bedeutet, die Briten gaben ihr später jedoch den Namen Grand Trunk Road. Sie war insgesamt 2600 Kilometer lang, begann in Kalkutta, führte dann über Delhi nach Pakistan und wand sich schließlich durch die Nordwestprovinz nach Kabul in Afghanistan hinauf.
    Unter den Moguln war die Straße bereits im sechzehnten Jahrhundert zu einer Art Touristenattraktion geworden. Die Moguln, die der Ansicht waren, dass man während der Reise keinesfalls auf einen angemessenen Komfort verzichten solle, ließen Stationen für den Wechsel der Pferde, Trinkwasserbrunnen und hohe Minarette errichten. Unzählige Sträucher wurden gepflanzt. Sicherheitsposten sorgten für Recht und Ordnung. In den an der Straße gelegenen Gasthäusern brachte man regionale Produkte, frisches Fleisch und Süßwasserfische auf den Tisch. Straßenverkäufer boten warme Mahlzeiten an und bereiteten auf Wunsch sogar spezielle Gerichte. In mit Holz befeuerten Lehmöfen, den Tandoors, wurde direkt an der Straße Naan gebacken, eine Art Hefefladen mit knuspriger Kruste. Auch Rebhuhn- und Lammkebabs wurden im Tandoor gebacken, in dem jedes Gericht perfekt zu gelingen schien.
    Die Moguln verfügten auch über ein weit fortgeschrittenes Wissen über Hydraulik. Sie bauten drei Brücken an der Straße. Die dabei verwendeten Materialien waren sowohl funktional als auch sehr ansehnlich. Die Brücken wurden mit Keramikfliesen verkleidet, die mit komplizierten geometrischen Mustern geschmückt waren. In Lahore und in Rawalpindi öffnete sich die Straße dann jeweils zu einem mit Bäumen bestandenen breiten Boulevard, den die Briten die »Promenade« nannten. An diesen Boulevards durften weder Verkaufsbuden aufgestellt werden, noch durften dort Pferdekutschen fahren. In seinem Roman Kim , der an eben dieser Straße spielt, beschreibt Rudyard Kipling die Grand Trunk sehr anschaulich als »einen wunderbaren Anblick ohne Gedränge - von Grün überzogen, von Schatten gesprenkelt, ein Fluss des Lebens«.

    Am nächsten Morgen nahm mein Vater auf dem Bahnsteig meine Hand und sagte, dass ich jetzt aufpassen solle, denn der Tezgam, der berühmte Schnellzug, würde jede Minute in den Bahnhof von Karatschi einfahren. Als der Zug nur wenige Sekunden nach dieser Ankündigung tatsächlich eintraf, wurde es auf dem Bahnsteig plötzlich sehr lebhaft und laut. Das Scheppern sich öffnender Metalltüren, die lautstark nach Gepäckträgern rufenden Stimmen und das Geschrei der Lebensmittelverkäufer, die ihre Waren anpriesen, all das jagte mir mit meinen zwölf Jahren einen Schauder über den Rücken, während ich von Geschwistern, Eltern, Gepäck und den beiden Hausangestellten Nanny und Lasoo umgeben dastand, die uns auf unserer Reise begleiten würden.
    Obwohl Lasoo deutlich älter als meine Geschwister und ich war, sahen ihn meine Eltern als Kind der Familie an. Sie vergaßen auch nicht, seine persönliche Geschichte so oft zu erzählen. Lasoo war der Sohn einer Hausangestellten unserer Familie. Im Jahr 1947, als er selbst noch ein Teenager war, spielte er oft mit meinen Geschwistern und mir in unserem Haus in Srinagar, während seine Mutter arbeitete. Die indische Regierung hatte meinen Vater verhaften lassen, weil er für die Gründung Pakistans eintrat, und meine Mutter saß nun zu Hause und wartete auf seine Rückkehr. Eines Morgens standen dann indische Armeeoffiziere vor unserem Haus. Sie sagten meiner Mutter, dass ein Bürgerkrieg ausgebrochen sei und sie deshalb nicht mehr für unsere Sicherheit garantieren könnten. Meiner Mutter blieben gerade einmal fünf Minuten Zeit, um ihre Familie in einen Jeep zu setzen, der uns zur pakistanischen Grenze bringen sollte. Lasoo klammerte sich verzweifelt an sie und flehte sie an, ihn nicht zurückzulassen. Also traf sie binnen Sekunden eine schwerwiegende Entscheidung, die den Lauf seines Lebens verändern würde: Sie setzte ihn zu ihren Kindern in den Jeep. Die Teilung Indiens und die Sperrung der Grenzen verhinderten dann, dass Lasoo zurückgeschickt wurde. Alle Bemühungen, die mein Vater im Folgenden unternahm, um Lasoos Familie ausfindig zu machen, blieben ohne Erfolg, und so beschloss er, dass der Junge sein Leben lang bei uns bleiben sollte.
    Als Kinder wussten
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