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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition)
Autoren: Colson Whitehead
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wechselnden, vollbusigen Schönheiten. Die Wohnung seines Onkels glich der Zukunft, einer Form des Mannseins, die auf der anderen Seite des Flusses wartete. Als seine Einheit schließlich mit Säuberungsaktionen jenseits der Mauer begann – wann auch immer das gewesen war –, wusste er, dass er in Onkel Lloyds Wohnung gehen, ein letztes Mal auf der Couchgarnitur sitzen und den letzten, leeren Bildschirm von vielen anstarren musste. Das Gebäude, in dem sein Onkel wohnte, lag nur ein paar Häuserblocks jenseits der Barriere, und er ertappte sich dabei, dass er es beäugte, wenn es in Sicht kam. Er suchte nach der Wohnung, zählte metallisch blaue Stockwerke und hielt nach Bewegung Ausschau. Das dunkle Glas gab nichts preis. Er hatte den Namen seines Onkels auf keiner Liste von Überlebenden gesehen und hoffte inständig, dass es keine Wiederbegegnung geben, er nicht die langsamen Schritte die Diele entlangkommen hören würde.
    Wenn man ihn zur Zeit des Zusammenbruchs gefragt hätte, was er denn so vorhabe, wäre ihm die Antwort leichtgefallen: als Anwalt arbeiten. Ihm fehlten attraktive Angebote, Begeisterung war ihm seiner ganzen Veranlagung nach fremd, und er war, was die Wünsche seiner Eltern anging, im Allgemeinen gefügig, trieb auf jener sanften, gutbürgerlichen Strömung, die einen weit entfernt von den Untiefen der Verantwortung heiter dahindümpeln lässt. Höchste Zeit, sich nicht mehr treiben zu lassen. Daher die Juristerei. Er fand es längst nicht mehr lustig, als seine Einheit bei der Säuberung eines Gebäudes im Planquadrat dieser Woche auf ein Nest von Anwälten stieß. Sie latschten Tag für Tag durch die Häuserblocks, und es hatte schon zu viele Kanzleien in zu vielen Gebäuden gegeben, als dass gerade dieser irgendein Neuigkeitswert zugekommen wäre. Doch an diesem Tag hatte er innegehalten. Er hatte sich sein Sturmgewehr über die Schulter gehängt und die Lamellen der Jalousie am Ende des Flurs auseinandergespreizt. Alles, was er wollte, war ein Fitzelchen von Uptown. Er versuchte sich zu orientieren: Schaute er nach Norden oder nach Süden? Es war, als zöge man eine Gabel durch Haferschleim. Die Asche verschmierte die Palette der Stadt auch am schönsten Tag zu einem stummen Grau, aber man brauchte nur Wolken und ein bisschen Niederschlag hinzufügen, und sie wurde zu einem der Finsternis geweihten Altar. Er war ein Insekt, das einen Grabstein erforschte: die Worte und Namen waren Spalten, in denen man sich verirren konnte, bedrohlich und bedeutungslos.
    Es war der vierte Regentag, Freitag Nachmittag, und ein Teil von ihm ergab sich dank entsprechender Konditionierung der Wochenend-Trägheit, auch wenn Freitage ihre Bedeutung eingebüßt hatten. Kaum zu glauben, dass der Wiederaufbau schon so weit gediehen war, dass man wieder auf die Uhr sah, Dinge aufschob, sich ein freies Wochenende vorstellen konnte. Hinter ihm lagen ein paar eintönige Tage, die seinen Glauben an die Reinkarnation bestätigt hatten: Alles war so langweilig, dass es nicht das erste Mal sein konnte, dass er es erlebt hatte. Angesichts der Katastrophe in gewisser Weise ein heiterer Gedanke. Wir kommen wieder. Er setzte seinen Rucksack ab, schaltete seine Helmlampe aus und legte die Stirn ans Glas, als wäre er in der Wohnung seines Onkels und deutete die Architektur zu einer Botschaft um. Aus verwischter Kohle tauchten die Türme auf, eine Ansammlung von Phantasiegebilden und Ahnungen von Dingen. Er war fünfzehn Stockwerke hoch, im Herzen von Zone One, und wie Sklaven schleppten sich Schemen immer höher in Richtung Midtown.
    Heutzutage nannte man ihn Mark Spitz. Er hatte nichts dagegen.
    Mark Spitz und der Rest von Einheit Omega waren halb fertig mit Duane Street 135 und trabten zügig vom Dachgeschoss nach unten. Bis jetzt alles klar. Nur ein paar Anzeichen von Chaos im Gebäude. Im siebzehnten eine geplünderte Kassenschublade, halb verzehrte, vergammelnde Mahlzeiten in Styroporschalen im Durcheinander der Schreibtische: veraltete Währung und das letzte Mittagessen. Wie in den meisten Geschäftsbetrieben, die sie säuberten, waren die Türen der Büros geschlossen worden, bevor alles komplett den Bach hinuntergegangen war. Die Stühle standen ordentlich an den zugehörigen Schreibtischen, wo die Reinigungskräfte sie an ihrem letzten Arbeitstag, dem letzten normalen Abend der Welt hingeschoben hatten, nur ein paar waren, von überstürzter Flucht in Unordnung gebracht, schräg der Tür zugewandt.
    In der Stille
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