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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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einen Toten geküsst hatten. Wir blieben sprachlos zurück. Die beiden, die sich der eigenen Vergänglichkeit genauso bewusst waren wie der ihres verstorbenen Freundes, hatten unseren Bemühungen, François’ Tod mit gutgemeinten Worten zu beschönigen, die nackte Wahrheit entgegengesetzt.
     
    Mit der Unsterblichkeit abzurechnen ist eine Grundvoraussetzung, um das Leben in seiner Gänze zu erfassen, wie es Etty Hillesum 12 in ihrem Tagebuch am 3. Juli 1942 so wunderbar ausdrückt: »Die Möglichkeit des Todes ist mir absolut gegenwärtig; mein Leben hat dadurch eine Erweiterung erfahren, daß ich dem Tod, dem Untergang ins Auge blicke und ihn als einen Teil des Lebens akzeptiere. Man darf nicht vorzeitig einen Teil des Lebens dem Tod zum Opfer bringen, indem man sich vor ihm fürchtet und sich gegen ihn wehrt, das Widerstreben und die Angst lassen uns nur ein armselig verkümmertes Restchen Leben übrig, das man kaum noch Leben nennen kann. Es klingt fast paradox: Wenn man den Tod aus seinem Leben verdrängt, ist das Leben niemals vollständig, und indem man den Tod in sein Leben einbezieht, erweitert und bereichert man das Leben.«
    Wir sollten uns also ganz im Gegenteil auf unsere Vergänglichkeit besinnen, um Erfüllung im Leben zu finden.
    Nach dieser Devise lebt Weera Sunawanachot, über den Laurent de Cherisey in seinen Büchern berichtet. 13 Sunawanachot arbeitete als Produzent bei einem Fernsehsender in Thailand und galt in seiner Heimat als Star. Doch als er Anfang 2000 mehrere Freunde verlor, erschütterten ihn diese Todesfälle zutiefst, und seine Gedanken kreisten stets um die Fragen: »Was für einen Sinn hat mein Leben? Wenn ich morgen genauso grausam und unerwartet sterben sollte wie meine Freunde, hätte ich dann ein befriedigendes Leben geführt? Welche der Dinge, die ich getan habe, würden wirklich zählen?«
     
    Weera Sunawanachot gab seine Karriere samt der dazugehörigen Position auf und wandte sich einem Projekt zu, das ihm am Herzen lag, das er bislang aber immer auf »später« verschoben hatte, »wenn ich Zeit habe«, »wenn ich die finanziellen Mittel habe«. Er nutzte sein Können weiterhin, setzte es aber anders ein, indem er nun in Zusammenarbeit mit Schulkindern Lehrfilme drehte. Nach und nach breitete sich die Idee in ganz Thailand aus und wurde später über die Grenzen hinaus von anderen Ländern übernommen.
     
    Es geht nicht darum, sich etwas zu beweisen, bevor man stirbt, und einen wahnsinnigen Wettlauf gegen die Zeit anzutreten! Viel wichtiger ist es, sich zu überlegen, wo für einen selbst die Erfüllung liegt, und die Gegenwart intensiv zu erleben.
    Simone de Beauvoir schrieb völlig zu Recht: »[Aber] die Gegenwart ist keine potentielle Vergangenheit, sondern der Augenblick, da wir uns zu entscheiden und zu handeln haben.« 14
    Das Erleben der Gegenwart, des jetzigen Augenblicks, wie man es durch die Behinderung kennenlernt, empfindet Philippe Pozzo di Borgo mit Sicherheit am intensivsten von uns dreien:
     
Vor meinem Unfall folgte ich blind den gängigen sozialen Verhaltensmustern, tat das, was von mir erwartet wurde, und war mir selbst völlig fremd. Durch die ständige Hektik in meinem Leben war ich gedanklich immer bei der Zukunft. Ich war nie wirklich da, nie ganz bei der Sache. Durch die Behinderung kam ich abrupt zum Stillstand. Die Verletzlichkeit nahm mir die Aussicht auf die Zukunft, die mir zuvor gehört hatte. Das an sich hätte wohl schon genügt, um mich in die Gegenwart zurückzuholen, doch hinzu kam der Schmerz.
Ich leide permanent, und ich bin nicht der einzige Mensch auf der Welt, der mit dem Schmerz leben muss. Diese Erfahrung kannte ich vorher nicht, und glauben Sie mir, es kann unerträglich sein. Die einzige Möglichkeit, damit zurechtzukommen, besteht für mich darin, mich auf den Augenblick zu konzentrieren. Ich halte in der Sekunde inne, projiziere mich nicht in eine Zukunft mit oder ohne Schmerzen. Ich besetze die Gegenwart, durch die ich vor meinem Unfall immer nur hindurchraste. Ich lasse mich buchstäblich mit meinem ganzen Gewicht im Jetzt nieder. Mit dieser Aufgabe bin ich ständig beschäftigt, und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass sie einfach wäre. Doch ich weigere mich abzustumpfen und schaue, schmecke, höre mit großer Intensität, im Jetzt, obwohl die Beschwerden mein ständiger Begleiter sind. Trotz des Leids freue ich mich sehr, dass ich lebe. Wenn Sie wüssten, wie gut mir meine Tasse Kaffee am Morgen
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