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Zerwüteter Pakt (German Edition)

Zerwüteter Pakt (German Edition)

Titel: Zerwüteter Pakt (German Edition)
Autoren: Daria Verner
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geschmückter Weihnachtsbaum auf sie wartete! Der stählerne Koloss setzte sich in Bewegung; ganz langsam… gewann schließlich an Geschwindigkeit und schlängelte sich den Bahnsteig entlang, ehe nur noch die roten Rücklichter zu sehen waren: Gloria war nicht eingestiegen!
    Die Leute strömten zu den Ausgängen und kurze Zeit später legte sich eine fröstelnde Ruhe über den Bahnsteig. Gloria saß auf einer Bank und starrte auf die Gleise. Was sollte sie nur tun? Wo sollte sie hin? Ohne Kirt und Maribell hatte sie ihre Richtung verloren. Gloria rieb die kalten Handflächen aneinander. Ihr Atmen bildete sein weißes Abbild in der Kälte. Es erinnerte Gloria an die Welt der Seelen. Und genau diese befand sich hier rings um sie herum… unsichtbar; das wusste sie. Kirt hatte ihr auch noch von zwei anderen Welten erzählt: die der Meeres- und Luftwesen. Doch er wollte nicht weiter darauf eingehen. Außer der Tatsache, dass alle Arten dicht nebeneinander lebten, ohne davon zu ahnen, hatte Kirt nichts gesagt.
    Gloria warf sich ihren Rucksack auf die Schulter und verließ den Bahnhof. Sie lief achtlos durch die Straßen bis zum Rhein. – Wohin auch sonst? Dieser bildete seit jeher eine Art Trostpflaster, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Glorias Gedanken kreisten um das Buch. Dieses stellte momentan den einzigen Weg zu Kirt dar. Doch nun schwieg es und Gloria empfand dieses Schweigen wie eine Verleugnung. Verdammt noch mal, sie würde nicht so einfach klein beigeben. Die Ungewissheit um Kirt und die Frage, ob sie ihn überhaupt noch einmal wiedersehen würde, ließ ihr keine Ruhe. Gloria beobachtete die Boote, die den Touristen für eine Rheinfahrt angeboten wurden. Die meisten schaukelten verlassen am Ufer. Ein Schiff allerdings schien startklar zu sein. Genügend Kleingeld hatte sie parat…
    »Frohe Weihnachten!« Der Mann am Kassenhäuschen sah Gloria freundlich an, die ihm einen Zehn-Euro-Schein entgegenhielt. Sie betrat das Boot und lief zum Außendeck. Ihr Blick haftete an den dunklen Wellen, die fortwährend gegen das Boot schlugen. Sie erinnerte sich an das erste Gedicht, das Maribell ihr damals geschrieben hatte: ‹Ohne die Trauer zu kennen, ist das Glück nicht zu spüren› hatte es da geheißen. Nur leider überwog bei ihr wohl eher die triste Seite. Herzlichen Dank auch! Mit Kirts Tod waren alle Gedichte verschwunden. Und doch erinnerte sich Gloria an die meisten noch recht gut.
    Plötzlich startete der Schiffsmotor. Der Boden begann leicht zu vibrieren und bereits im nächsten Moment entfernte sich das Boot vom Ufer. Gloria ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Sie genoss die Stille, als plötzlich die Tür hinter ihr aufging und zwei kleine Jungen herausstürmten. Dass sie ‹Fangen› spielten, war auf den ersten Blick zu erkennen; vorbei die Ruhe. Sie schaute zu den beiden Kindern, die sich lautstark jagten. Entnervt holte Gloria einen Kugelschreiber und das Buch aus ihrem Rucksack. Je früher sie damit begann, die ihr in Erinnerung gebliebenen Verse niederzuschreiben, desto besser war es wohl, denn auf diese Weise könnte sie zumindest einen kleinen Teil der letzten sieben Monate retten. Die Seiten flatterten im Wind und Gloria legte den Arm über das Buch, damit sie in Ruhe auf den wehenden Blättern schreiben konnte…
    Die Menschen – sie hinterlassen Spuren,
Abdrücke auf deinem Herz.
Die Zukunft aber liegt in deinen Händen.
Nutze, was der Tote zuvor dir gegeben,
vertrau auf dich, sieh die Fetzen des Lebens sich neu verweben.
    So – oder so ähnlich musste Maribell es ihr geschrieben haben. Mit der nächsten Strophe hatte Gloria keine Mühe. Sie bildete seit jeher ihre unangefochtene Lieblingsstelle:

    Ihr Antlitz streichelt dir über die Seele,
lässt dich nicht allein mit deinem Schmerz.
Worte und Verse – zerbrechlich und klein,
so groß wird dein Mut zum Neuanfang sein!
    Noch im gleichen Augenblick, als Gloria das Gedicht schrieb, tröstete es sie. Zwar waren es tatsächlich nur Worte, aber immerhin wurden diese Verse einst von einem echten Blutengel verfasst. »Nein…!« Gloria schrie mit Entsetzen auf, als sie wie aus dem Nichts einen Stoß in den Rücken bekam. Panisch krallten ihre von der Kälte steif gefrorenen Finger nach dem Buch, das im gleichen Moment den Kontakt zu ihren Händen verlor. Wie in Zeitlupe spürte Gloria, wie der glatte Einband ihre Fingerkuppen streifte. Doch mit panischem Blick sah sie zu ihrem Entsetzen nur noch, wie das Buch in das unruhige, graue
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