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Zerstöre mich

Zerstöre mich

Titel: Zerstöre mich
Autoren: Tahereh H. Mafi
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womöglich hat er gerade einen Scherz gemacht.
    »Wozu?« Ich nehme mir ein Stück Brot. »Ich bin vollkommen dazu imstande, wach zu bleiben. Nur ein Idiot würde sich dabei auf die Wirkung einer Bohne oder eines Blattes verlassen.«
    Delalieus Lächeln erstirbt.
    »Ja«, sagt er. »Gewiss, Sir.« Er starrt auf sein Essen und schiebt seine Kaffeetasse weg.
    Ich lasse das Brot auf meinen Teller fallen. »Sie sollten«, sage ich, jetzt ruhiger, »sich nicht so leicht von meiner Meinung beeinflussen lassen, Delalieu. Stehen Sie zu Ihren Überzeugungen. Finden Sie klare und einleuchtende Argumente. Auch wenn ich Ihre Meinung nicht teile.«
    »Jawohl, Sir«, flüstert er. Bleibt ein paar Sekunden stumm. Doch dann streckt er die Hand nach seiner Kaffeetasse aus.
    Delalieu.
    Er ist der Einzige, mit dem ich Gespräche führen kann.
    Er wurde diesem Sektor ursprünglich von meinem Vater zugeteilt und hat nun Anweisung hierzubleiben, bis er nicht mehr dienstfähig ist. Und obwohl er wohl gut fünfundvierzig Jahre älter ist als ich, besteht er darauf, mir untergeordnet zu bleiben. Ich kenne Delalieus Gesicht schon seit meiner Kindheit; er nahm bei uns zuhause an den zahllosen Sitzungen vor der Machtübernahme durch das Reestablishment teil.
    Bei uns fanden ständig Treffen statt.
    Mein Vater plante immer irgendetwas, leitete Diskussionsrunden und geheime Gespräche, an denen ich nie teilhaben durfte. Die Männer von damals beherrschen heute die Welt, weshalb ich mich frage, warum Delalieu nie nach einer höheren Position gestrebt hat. Er war von der ersten Stunde an Teil des Regimes, scheint aber mit seiner jetzigen Stellung vollkommen zufrieden zu sein. Er bleibt unterwürfig, auch wenn ich ihm Gelegenheit zum Sprechen gebe; er will nicht befördert werden, auch wenn ich ihm einen besseren Lohn anbiete. Seine Loyalität weiß ich zu schätzen, aber seine Ergebenheit zerrt an meinen Nerven. Er scheint sich niemals mehr zu wünschen als das, was er hat.
    Ich sollte ihm nicht vertrauen.
    Und dennoch tue ich es.
    Denn ich werde verrückt, wenn ich kein normales Gespräch mehr führen kann. Zu meinen Soldaten muss ich Distanz halten – zum einen, weil sie mich alle tot sehen wollen, und zum anderen, weil ich als ihr Führer neutral bleiben muss, um unabhängige Entscheidungen treffen zu können. Ich habe mich selbst zu einem einsamen Leben ohne Altersgenossen verurteilt, zur Isolation in meinem eigenen Geist. Ich wollte mich zum gefürchteten Führer machen, und es ist mir geglückt; niemand wird meine Autorität in Frage stellen oder mir widersprechen. Ich bin für alle nur der Oberkommandeur und Regent von Sektor 45. Freundschaft habe ich nie erlebt. Als Kind nicht und jetzt erst recht nicht.
    Bis auf eine einzige Ausnahme.
    Vor einem Monat bin ich ihr begegnet. Der einen Person, die mir direkt in die Augen geblickt hat. Die unverblümt mit mir gesprochen hat. Die es gewagt hat, in meiner Gegenwart Zorn und Verletzlichkeit zu zeigen. Die keine Angst hatte, mich herauszufordern, mich anzuschreien –
    Ich kneife die Augen zusammen, bestimmt schon zum zehnten Mal heute. Lasse die Gabel auf den Teller fallen. Mein Arm schmerzt wieder heftig, und ich greife nach den Pillen.
    »Sie sollten davon höchstens acht in vierundzwanzig Stunden nehmen, Sir.«
    Ich öffne die Schachtel und stecke mir drei Tabletten in den Mund. Wenn meine Hände bloß nicht mehr zittern würden. Meine Muskeln fühlen sich angespannt und überdehnt an.
    Ich warte nicht, bis die Tabletten sich auflösen, sondern zerbeiße sie. Der bittere metallische Geschmack fördert die Konzentration. »Berichten Sie mir von Kent.«
    Delalieu stößt seine Kaffeetasse um.
    Ich habe das Personal weggeschickt; niemand hilft Delalieu, als er hastig versucht, den Kaffee aufzuwischen. Ich lehne mich zurück, starre an die Wand, addiere im Kopf die Minuten, die ich heute schon verloren habe.
    »Lassen Sie den Kaffee.«
    »Ich – ja, natürlich, tut mir leid, Sir –«
    »Aufhören.«
    Delalieu lässt die tropfenden Servietten fallen. Erstarrt.
    »Sprechen Sie.«
    Ich betrachte seinen Adamsapfel, als er schluckt, zögert. »Wir können es uns nicht erklären, Sir«, flüstert er. »Dieses Gebäude war unauffindbar und komplett unzugänglich. Die Eingangstür war festgerostet und verriegelt. Aber als wir hinkamen«, er schluckt wieder, »als wir hinkamen, war sie … zerstört. Und wir wissen nicht, wie das geschehen konnte.«
    Ich richte mich auf. »Was meinen Sie mit
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