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Zeit im Wind

Zeit im Wind

Titel: Zeit im Wind
Autoren: Nicholas Sparks
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kränken würde. Durfte man vor ihr jemals wütend werden? Durfte man über die Zukunft sprechen? Wegen dieser Angst fiel es mir schwer, überhaupt mit ihr zu reden, obwohl sie, wie gesagt, viel Geduld mit mir hatte.
    In meiner Angst wurde mir noch etwas anderes klar, was alles noch verschlimmerte: Ich hatte sie gar nicht richtig gekannt, als sie gesund war. Erst seit ein paar Monaten sahen wir uns regelmäßig, und verliebt war ich seit genau achtzehn Tagen. Diese achtzehn Tage kamen mir vor wie mein ganzes Leben, aber wenn ich Jamie ansah, stellte ich mir unwillkürlich die Frage, wie viele Tage es noch geben würde.
    Am Montag kam sie nicht zur Schule. Da wußte ich, daß sie dieses Gebäude nie mehr betreten würde. Ich würde sie nie mehr in der Mittagspause allein mit der Bibel am Tisch sitzen sehen, ich würde nie mehr ihre braune Strickjacke in der Menge sehen, wenn sie auf dem Weg zur nächsten Stunde war. Sie hatte mit der Schule abgeschlossen, sie würde nie ihr Abschlußzeugnis erhalten. Zumindest dachte ich so.
    Am ersten Schultag nach den Ferien konnte ich mich auf nichts konzentrieren, während ein Lehrer nach dem anderen uns das erzählte, was wir längst wußten. Die Reaktionen waren ähnlich wie die in der Kirche. Die Mädchen weinten, die Jungen ließen die Köpfe hängen, man erzählte sich Geschichten, als wäre Jamie schon längst tot. Was können wir tun? fragten sich alle und sahen mich an, als wüßte ich die Antwort.
    »Ich weiß es auch nicht«, war das einzige, was mir einfiel.
    Ich schwänzte die Nachmittagsschulstunden und ging zu Jamie. Als ich an die Tür klopfte, öffnete sie, wie sie es immer getan hatte, fröhlich und so wollte es scheinen - sorgenfrei.
    »Hallo, Landon«, begrüßte sie mich, »Was für eine Überraschung!«
    Als sie sich zu mir neigte, um mich zu küssen, erwiderte ich den Kuß, aber beinahe hätte ich losgeweint.
    »Mein Vater ist nicht zu Hause, aber wenn du magst, können wir auf der Veranda sitzen.«
    »Wie kannst du so sein?« platzte ich heraus. »Wie kannst du so tun, als wäre alles in Ordnung?«
    »Ich tue nicht so, als wäre alles in Ordnung, Landon. Ich hole eben meinen Mantel, dann können wir uns draußen unterhalten - ist dir das recht?«
    Sie lächelte und wartete auf meine Antwort. Schließlich nickte ich mit zusammengepreßten Lippen. Sie streichelte mir über den Arm.
    »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie.
    Ich setzte mich auf einen der Stühle. Einen Moment später kam Jamie heraus. Sie trug einen Wintermantel, Handschuhe und eine Mütze, damit sie nicht fror. Der Nordostwind war abgeflaut, und es war längst nicht mehr so kalt wie am Wochenende, aber für sie war es zu kalt.
    »Du warst heute nicht in der Schule«, sagte ich. Sie nickte und senkte den Blick. »Ich weiß.«
    »Kommst du denn wieder zur Schule?«
    Obwohl ich die Antwort schon wußte, mußte ich sie aus ihrem Mund hören.
    »Nein«, entgegnete sie leise, »ich komme nicht mehr.«
    »Warum nicht? Geht es dir so schlecht?«
    Als mir die Tränen in die Augen traten, griff sie nach meiner Hand.
    »Nein, heute fühle ich mich eigentlich ganz gut. Ich möchte einfach morgens, bevor mein Vater in sein Büro geht, zu Hause sein. Ich möchte soviel Zeit wie möglich bei ihm sein.«
    Bevor ich sterbe, hätte sie noch hinzufügen können, ließ es aber. Mir war übel, ich wußte nichts zu sagen.
    »Als die Ärzte uns die Diagnose mitteilten«, fuhr sie fort, »sagten sie, ich solle, so lange es geht, ein möglichst normales Leben führen. Sie meinten, so würde ich besser bei Kräften bleiben.«
    »Das ist aber nicht normal«, sagte ich mit Bitterkeit.
    »Ich weiß.«
    »Hast du keine Angst?«
    Irgendwie erwartete ich, daß sie nein sagen würde, daß sie sehr erwachsen und weise antworten und mir erklären würde, daß wir uns nicht anmaßen dürfen, die göttliche Vorsehung verstehen zu wollen.
    Sie wandte den Blick ab. »Doch«, sagte sie dann, »ich habe die ganze Zeit Angst.«
    »Warum verhältst du dich dann nicht so?«
    »Das tue ich. Wenn ich allein bin.«
    »Weil du mir nicht vertraust?«
    »Nein«, antwortete sie, »Weil ich weiß, daß du auch Angst hast.«
    Ich fing an, für ein Wunder zu beten.
    Angeblich passierten sie laufend. Ich las davon in den Zeitungen. Menschen, die wieder laufen konnten, nachdem man ihnen gesagt hatte, sie würden ihr Leben lang im Rollstuhl sitzen, oder die einen schrecklichen Unfall überlebten, obwohl keine Hoffnung bestand. Immer mal wieder
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