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Zeit im Wind

Zeit im Wind

Titel: Zeit im Wind
Autoren: Nicholas Sparks
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schlug ein Wanderprediger vor unserer Stadt sein Zelt auf, zu dem die Menschen pilgerten, um zu sehen, wie andere geheilt wurden. Ich war auch ein paarmal dagewesen. Obwohl ich vermutete, daß die meisten Heilungen faule Tricks waren, weil ich nicht einen von den Menschen, die geheilt wurden, kannte, gab es doch gelegentlich Dinge, die auch ich mir nicht erklären konnte. Sweeney, der Bäcker in Beaufort, hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft, und nach Monaten des Gefechtsfeuers in den Schützengräben war er auf einem Ohr taub. Er tat nicht nur so, er hörte wirklich nichts, so daß wir als Kinder manchmal unbemerkt eine Zimtstange stibitzen konnten. Der Prediger fing heftig an zu beten und legte seine Hand auf Sweeneys Kopf. Sweeney schrie laut auf, so daß die Zuschauer von ihren Sitzen aufsprangen. Er hatte einen erschrockenen Gesichtsausdruck, als hätte der Prediger ihn mit einem glühenden Schürhaken berührt, doch dann schüttelte er den Kopf, sah sich um und sagte:
    »Ich kann wieder hören!«
    Er konnte es selbst nicht glauben. Gott, verkündete der Prediger, als Sweeney sich wieder auf seinen Platz setzte, Gott ist allmächtig. Er erhört unsere Gebete. An dem Abend schlug ich die Bibel auf, die Jamie mir zu Weihnachten geschenkt hatte, und fing an zu lesen. Ich hatte natürlich Bibelgeschichten im Kindergottesdienst und im Religionsunterricht gehört, aber ich erinnerte mich nur an die spektakulären Dinge: Gott schickt die sieben Plagen, damit das Volk Israel aus Ägypten ausziehen kann, Jonas wird von einem Wal verschluckt, Jesus wandelt über das Wasser oder erweckt Lazarus von den Toten. Es gab noch andere aufsehenerregende Geschichten. Ich wußte, daß in fast jedem Kapitel der Bibel von den großen Taten Gottes berichtet wird, ich hatte nur nicht alles gelesen. Für uns Christen galt hauptsächlich das Neue Testament, so daß ich nichts über die Bücher Jesaja oder Ruth oder Joel wußte. In der ersten Nacht las ich Genesis, in der zweiten Nacht Exodus. Dann kam Levitikus, dann Numeri, dann Deuteronomium. An manchen Stellen kam ich nur schleppend voran, besonders da, wo die Gesetze erklärt wurden, aber ich konnte trotzdem nicht aufhören. Ich war gefesselt, ohne daß ich genau wußte, warum.
    Eines Abends, es war schon spät, kam ich zu den Psalmen und wußte sofort, daß ich die gesucht hatte. Jeder kennt den 23. Psalm: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Aber ich wollte auch die anderen lesen, da ja keiner wichtiger zu sein vorgab als ein anderer. Nach einer Stunde kam ich zu einer Passage, die unterstrichen war. Ich nahm an, daß Jamie sie sich angestrichen hatte, weil sie eine Bedeutung darin sah. Das war der Text:
    Wenn ich rufe zu Dir, Herr, mein Hort, so schweige mir nicht, auf daß nicht, wo Du schweigst, ich gleich werde denen, die in die Grube fahren.
    Höre die Stimme meines Flehens, wenn ich zu Dir schreie, wenn ich meine Hände aufhebe zu Deinem heiligen Chor.
    Mit Tränen in den Augen klappte ich die Bibel zu. Ich konnte den Psalm nicht zu Ende lesen.
    Irgendwie wußte ich, daß sie die Stelle für mich unterstrichen hatte.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte ich, den Blick stumpf auf das gedämpfte Licht der Schlafzimmerlampe gerichtet. Meine Mom und ich saßen nebeneinander auf dem Bett. Es war Ende Januar, der schwierigste Monat meines Lebens, und der Februar, in dem alles noch schwieriger werden würde, stand bevor.
    »Ich weiß, daß es hart für dich ist«, murmelte sie, »aber es gibt nichts, was du tun könntest.«
    »Ich meine nicht wegen Jamies Krankheit - ich weiß, daß ich da machtlos bin. Ich meine wegen Jamie und mir.«
    Meine Mutter sah mich verständnisvoll an. Sie machte sich Sorgen wegen Jamie, aber sie machte sich auch meinetwegen Sorgen. Ich fuhr fort:
    »Es fällt mir schwer, mit ihr zu sprechen. Wenn ich sie ansehe, dann geht mir immer durch den Kopf, daß ich bald nicht mehr mit ihr sprechen kann. In der Schule denke ich die ganze Zeit an sie und wünsche mir, bei ihr zu sein, aber wenn ich dann bei ihr bin, weiß ich nicht, was ich sagen soll.«
    »Ich weiß nicht, ob du etwas sagen kannst, was ihr hilft.«
    »Was soll ich dann tun?«
    Sie sah mich traurig an und legte mir den Arm um die Schulter.
    »Du liebst sie wirklich, nicht wahr?« sagte sie.
    »Von ganzem Herzen.«
    Sie sah so traurig aus, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
    »Was befiehlt dein Herz dir?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Vielleicht kannst du nicht hören, was es dir
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