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Zeit der Sternschnuppen

Zeit der Sternschnuppen

Titel: Zeit der Sternschnuppen
Autoren: Herbert Ziergiebel
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zertretenen Weiß einen neuen Anstrich. Vor einer Seitengasse blieb ich stehen. Kinder bauten einen Schneemann, einige Buben lieferten sich eine Schneeballschlacht. Mich traf ein Schneeklumpen an der Schulter. Ich köpfte den Schnee vom Mantel, hörte eine Frau über die frechen Gören schimpfen. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte ich und hätte mich am liebsten an dem Vergnügen beteiligt.
Ich rief mir Mes Worte ins Gedächtnis, hörte den sachlichmonotonen Klang seiner Stimme, als wäre es gestern gewesen: »Alles im Universum ist Bewegung und ewiger Wandel, das Leben stete Veränderung. Wenn Unvernunft diese Veränderung aufzuhalten versucht, tritt die Katastrophe ein, das Ende…« Und noch ein Satz, der sich mir unauslöschlich eingeprägt hatte: »Der Sinn des Lebens hängt immer von der Tiefe deines Denkens und vom Horizont deiner Erkenntnisse ab…«
War diese Feststellung nicht unwiderlegbar? War es nicht die letzte, ewige Wahrheit? Lange Zeit war ich davon überzeugt gewesen; jetzt kamen mir Zweifel. Me bezog seine Erfahrung und Weisheit von einer Warte, die keine Beziehung zu dem Leben besaß, das mich umgab: Die lapidare Feststellung, daß alles im steten Werden und Vergehen begriffen sei, blieb unverbindlich, wenn man nicht nach der Richtung und nach dem Ziel fragte.
Langsam entwirrte sich das Labyrinth meiner widerspruchsvollen Gedanken und Empfindungen, entschied sich mein »Sein oder Nichtsein«. Bis jetzt hatte ich immer nur darüber nachgedacht, was die Erde mir zu bieten hatte – was gab ich ihr eigentlich? Was machte ich mit und aus meinem Leben?
Zwei Mädchen, nicht älter als elf oder zwölf Jahre, eilten an mir vorüber. Ich hörte, wie sie ernst und gewichtig über eine Chemiearbeit sprachen. Ihre Probleme erinnerten mich an eine Szene im sechsten Mond, an den Streit mit dem Alten in der Töpferwerkstatt. Wir hatten Vasen, Krüge und Töpfe geformt, bis ich begriffen hatte, wie sinnlos mein Eremitendasein war. Leben – wofür und für wen?
War nicht in dieser Frage zugleich die Antwort enthalten? Der Sinn des Lebens konnte nicht allein von der Tiefe des Denkens und dem Horizont der Erkenntnisse abhängen. Erst das aus der richtigen Erkenntnis hervorgehende folgerichtige Handeln, das tätige, zielstrebige Bemühen, an der Veränderung der Welt teilzuhaben, verlieh dem Leben seinen Sinn.
»Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« – die Schlußfolgerungen meiner Überlegungen beflügelten meine Schritte. Was ich noch nicht auszusprechen wagte, wurde mir mehr und mehr zur Gewißheit. Me und Aul forderten Unmögliches von mir. Nur hier, auf der Erde, war mein Dasein sinnvoll, nur hier konnte es sich mit dem Streben anderer verbinden.
Hier bleiben, atmen, sehen, sinnvoll tätig sein – es überfiel mich wie ein Rausch. Ich hastete weiter, von fiebernder Spannung erfüllt. Vor dem Schaufenster eines Musikgeschäftes blieb ich stehen, betrachtete das Schallplattenangebot. Unterhaltungsmusik zum Tanzen und Träumen, die Beatles und Klassiker; Vivaldi, Bach, Händel, Tschaikowski, Bartok, Chopin, Smetana, Beethoven – Jahrhunderte lagen hier ausgebreitet, Musik der Erde. Auch sie gehörte in die Waagschale. In der »Quil« wäre das alles ausgelöscht. Keine Probleme mehr…
Mir kam ein Vers in den Sinn, den ich vor langer Zeit einmal gelesen hatte: »Dem Land, wo die Luft wie süßer Most, entfliehst du – zu schön ist der Käfig. – Die Erde, auf der du gefroren im Frost, die liebst du heftig und ewig…«
In dieser Minute wurde es mir zur unumstößlichen Gewißheit: Der Gegenwart enteilen heißt sterben. Es war genauso fatal wie das Zurückbleiben hinter der Gegenwart.
Wie lange war es her, daß ich mir über ein Plakat den Kopf zerbrochen hatte? »Welt von morgen« – sie war vorstellbar, vielleicht nicht so, wie ich sie erlebt hatte, aber sie würde so aussehen, wie wir sie einrichteten. Ich atmete tief die frische Winterluft ein und wußte, daß ich meine Entscheidung getroffen hatte. Eine Last war von mir abgefallen; ich hatte das Empfinden, zum zweiten Male geboren zu sein.
Durchstreife das All, Me, und kehre eines Tages zurück. Meine Nachkommen werden dir entgegeneilen und dich mit Würde empfangen. Vielleicht erinnerst du dich dann noch eines Menschen, der zu dieser Zeit nicht mehr unter den Lebenden weilen wird…
Meine Entscheidung versetzte mich in Hochstimmung. Am liebsten hätte ich jetzt laut gesungen und allen Menschen einen guten Tag gewünscht.
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