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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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Offiziersmantels angefertigt. Der Mann, der ihn so lange verfolgt hatte, schien ihn seinerseits eingehend zu mustern. Beide taxierten einen Feind.
    »Ich kenne Sie nicht«, sagte Rutledge schließlich. »Und ich weiß auch nicht, warum Sie einen so langen Schatten über mein Leben geworfen haben. Falls Sie mich töten werden, sagen Sie mir wenigstens, warum.«
    »Es ist der Schatten des Krieges, nicht meiner.« Und dann fügte er mürrisch hinzu: »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie sich als so mutig erweisen würden.«

    »Was ist Ihnen im Krieg zugestoßen?«
    »Was ist uns allen zugestoßen? Sie waren Offizier, Sie sollten es eigentlich wissen. Sie haben uns gnadenlos ausgeblutet, während Sie in Sicherheit weit hinter den Linien gesessen haben, aber uns haben Sie hinausgeschickt und uns tagein, tagaus ins Geschützfeuer laufen lassen. Für ein paar Zentimeter Land! Was wir bei einem Angriff verloren haben, mussten wir beim nächsten wieder zurückerobern. Um Ihres eigenen Ruhmes willen. Aus keinem anderen Grund als schlichter Ignoranz und Dummheit, und es war die reinste Vergeudung, eine sinnlose Vergeudung von Menschenleben!«
    »Ich war selbst in den Schützengräben.«
    »Erzählen Sie mir keine Lügen. Ich habe mir geschworen, jemanden dafür büßen zu lassen, was man uns angetan hat. Ich habe mir geschworen, wenn ich die Kämpfe überlebe und nach Hause komme, so viele Offiziere zu töten, wie ich nur irgend finden kann.«
    »Woher wussten Sie, dass ich am Silvesterabend bei Mrs. Browning zu Besuch sein würde?«
    »Die Köchin hat es mir erzählt. Ich hatte sie in einem Geschäft kennengelernt, in dem ich die Fußböden gefegt habe, und manchmal haben wir uns über Frankreich unterhalten. An jenem Tag hat sie dem Metzger erzählt, ihre Herrin erwartete Gäste zum Abendessen, und ich habe sie gefragt, wer eingeladen ist. Commander Farnum und Captain Rutledge, hat sie gesagt. War der Captain in Frankreich?, habe ich sie gefragt, und sie hat es bejaht. Vier Jahre lang, hat sie gesagt, das muss man sich mal überlegen, und er ist ohne einen Kratzer nach Hause gekommen! In dem Moment wusste ich, dass Sie fern von der Front gewesen sein müssen. Irgendwo ganz hinten, in vollkommener Sicherheit. Nicht viele von meinen Kumpeln haben den Kriegsbeginn und das Kriegsende erlebt. Stattdessen hat man die Maschinengewehre mit ihnen gefüttert. Haben Sie gesehen, was diese Gewehre einem Mann antun?
Waren Sie jemals in einem Feldlazarett und haben wirklich hingeschaut?«
    Wie konnte er ihm antworten, ohne wieder einer Lüge bezichtigt zu werden?
    »Wie heißen Sie?«, fragte Rutledge stattdessen. Er war erschöpft, und sein Verstand verweigerte ihm den Dienst.
    »Sie haben sich nie dafür interessiert, die Namen der Toten zu erfahren. Und die der Lebenden auch nicht, wenn wir schon dabei sind. Wir waren Ziffern auf einer Tabelle, gesichtslos, und man hat uns vorangetrieben, weil es den Franzosen oder den Amerikanern oder dem Kriegsministerium gerade in den Kram gepasst hat. Und als alle abgeschlachtet waren, haben Sie weitere gefunden, die Sie an die vorderste Front schicken konnten. Sie haben meinen Bruder und meinen Cousin und meine Nachbarn und meinen Sohn gefunden.«
    Er unterbrach sich und warf einen Blick auf den Leichnam von Mary Ellison. »Ich wollte diese Frau nicht töten, das ist die Wahrheit. Ich wollte Ihnen Angst einjagen, so große Angst, wie ich sie in den schlimmsten Zeiten hatte. Ich wollte, dass Sie wissen, wie es ist, dem Tod ins Auge zu sehen. Sie sollten selbst sehen, dass es keinen Ausweg gab, ohne sich selbst zu beschämen. Ich wollte, dass Sie sich daran erinnern, was Gewehre Menschen wie uns angetan haben. Ich hatte nicht die Absicht, eine Frau zu töten. Warum haben Sie ihr bloß Ihren verdammten Wagen geliehen!« Aus seiner Stimme war eine Mischung aus Scham und Wut herauszuhören.
    »Sie hat ihn sich geborgt, ohne mich zu fragen. Haben Sie hier draußen gelebt, mitten im Nichts? Wo haben Sie geschlafen? Wie sind Sie an Nahrung gekommen?«
    »Es ist immer noch besser als in den Schützengräben.«
    Vielleicht stimmte das, dachte Rutledge. Aber das war kein Leben für einen Soldaten.
    Der Mann richtete seinen Revolver auf ihn. »Sie können um Ihr Leben flehen.«

    »Ich habe nie einen Deutschen um mein Leben angefleht, und ich will verflucht sein, wenn ich einen Engländer darum anflehe!«, sagte Rutledge, in dem plötzlich Wut aufstieg.
    Der Mann gab einen Schuss ab, und er konnte das Wimmern
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