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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse
Autoren: Sally Nicholls
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tierähnliche Gesicht. Aber er sieht älter aus, dunkler. Und er ist zu Fuß, das Pferd, auf dem er sonst geritten ist, hat er nicht dabei. Er sieht jetzt weniger wie ein Mann aus und mehr wie ein Tier, so gekrümmt und vornübergebeugt, wie er an der Wand lehnt.
    Ich weiß nicht, wieso er da ist, und ich mache mir darüber jetzt auch keine Gedanken, denn jetzt kommt der andere, meiner, auf einem grauen Pferd vom Dorf herauf den Hügel hoch. Als der Stechpalmenkönig ihn sieht, rennt er los und die Straße entlang, geduckt und mit gesenktem Kopf. Im Licht der Straßenlaternen sehe ich ihn manchmal kurz, dann wieder ist er eine Weile nicht zu sehen.
    Der andere hält sein Pferd an und sieht zum Haus hoch. Ich strecke den Kopf zum Fenster hinaus.
    »Da ist er lang!«
    Er schüttelt den Kopf. Er ist wieder älter. Ein richtiger Mann ist er jetzt.
    »Komm runter!«, ruft er. »Komm und mach mit! Die Jagd geht los.«
    Einen Moment lang zögere ich, dann ziehe ich den Kopf zurück und suche aufgeregt unter dem Bett nach meinen Schuhen.
    Ich ziehe mich gar nicht erst an, nehme nur meinen Mantel vom Haken und ziehe ihn über den Schlafanzug. Ich bin ganz hibbelig vor Aufregung, als ich die Hintertür aufsperre, genau da, wo mein Herz sitzt, spüre ich es. Immer schon wollte ich das mal machen, mitten in der Nacht ganz allein rausgehen. Nie habe ich verstanden, wie die Fünf Freunde sich das trauten. Aber heute Nacht habe ich keine Angst. Heute Nacht ist da ein Mann auf einem hohen Pferd. Heute Nacht ist der Mond rund und silbrig und heute Nacht ist die Luft schneidend kalt und heute Nacht ist der Himmel so tief, tief blau und da steht dieser einzelne helle Stern über den Hügeln, und ich bin draußen, ohne dass irgendjemand davon weiß, und am liebsten würde ich singen.
    Er wartet an der Mauer auf mich. Er hat weder Sattel noch Zaumzeug – als hätte er das Pferd von einer Weide gestohlen, so sieht es aus. Hat er ja vielleicht auch. Er trägt etwas, was ich für einen Umhang halte, aber als ich näher komme, sehe ich, dass es ein Tierfell ist. Ein echtes Tierfell mit vier Beinen, aber ohne Kopf. Die Vorderbeine des Tiers hat er sich um den Hals geschlungen, der Rest hängt ihm über den Rücken. Ein starker, durchdringender Geruch liegt in der Luft, der mir Angst macht, gleichzeitig aber auch aufregend ist.
    »Dann komm«, sagt er und hält mir eine Hand hin.
    Ich habe bisher erst ein Mal auf einem Pferd gesessen, und das war auch nur ein Pony. Aber ich habe keine Angst. Ich klettere auf die Mauer, und der Grüne Mann beugt sich herunter, fasst mich unter die Achseln und hebt mich hoch. Einen kurzen Moment lang gibt es ein Gehampel, während er mich hochzieht und ich mich an der Pferdemähne festklammere, aber dann ist auch schon alles in Ordnung und ich sitze gerade vor ihm.
    Ich sehe erst ihn an und dann Grandmas und Grandpas Haus, und dann lache ich laut.
    »Sieh mal«, sagt er und zeigt mir etwas. Es ist ein Horn – eins von der Sorte, in die man bläst. Aber irgendwann hat es wirklich einem Tier gehört. Die Spitze am Ende sieht aus wie aus Gold, doch der lange, geschwungene Körper stammt von einem Tier. Von was für einem, weiß ich nicht.
    »Kann ich auch mal?«, frage ich, und er nickt.
    Ich lege die Lippen um das Horn und blase, aber mehr als ein stotterndes Geräusch kommt nicht heraus. Der Grüne Mann lacht. Er nimmt mir das Horn aus den Händen, hält es mit einem seiner dunklen Arme hoch und bläst hinein.
    Und dann ertönt ein wunderbarer Ton – taraaa! taraaaa! taraaah! –, Jagdruf und Warnung und Herausforderung, alles in einem. Das Pferd richtet sich auf den Hinterbeinen auf, der Mann legt seinen Arm fester um meine Mitte, er stößt noch einmal in sein Horn – taraaa! taraaa! –, und los geht’s.
    Los geht’s mit laut schlagenden Hufen. Los geht’s, und mein Haar weht im Wind, und der Grüne Mann schlingt den Arm fest um mich, und meine Finger krallen sich in die Mähne des Pferdes. Wir sind schneller als Feen, schneller als Hexen, schneller als alle Achterbahnen und Schlitten, schneller als Schlittschuhe oder Fahrräder und viel schneller als Chloes fettes Pony. Wir springen über eine Hecke, und wieder bläst der Grüne Mann in sein Horn – taraaa! taraaa!
    Auf einmal merke ich, dass wir nicht allein sind – andere Gestalten brechen durch die Hecken, klein, dunkel und wild: Hunde mit schwarzen Läufen und weißen Zähnen. Andere Jäger sind hinter uns und um uns herum, und ich drehe mich
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