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Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman

Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman

Titel: Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
Autoren: Annette McCleave
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Kiyoko spürte die Nachdenklichkeit hinter seinen dunkelbraunen Augen. Der Amerikaner hatte sein Interesse geweckt.
    »Das ist ein Freund einer Person, die ich verachte«, erklärte sie. Sie wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. »Was führt Sie in die Stadt, Sensei?«
    »Heute war ein glückverheißender Tag für einen Besuch. Deshalb bin ich hier.«
    Das war eine angemessene Antwort von einem weisen alten Onmyōji, der in der Kunst der Kalenderdeutung bewandert war. Doch bei Sora war nichts so einfach, wie es dem Anschein nach wirkte. Oder so einfach wie das ruhige Blau seiner Aura. Ihre angeborene Begabung, die farbenprächtigen Ausstrahlungen der menschlichen Lebenskraft zu lesen, verschaffte ihr bei ihrem Mentor keinen Vorteil. »Ist er etwa der
kraftvolle Mann,
der Ihren Prophezeiungen nach meine Zukunft beeinflussen wird, Sensei?«
    »Möglicherweise«, erwiderte er. »Meine Deutung besagte, dass er ein Fremder ist.«
    »Das wäre bedauerlich. Ich habe ihn weggeschickt.«
    Der Sensei zuckte die Achseln. »Wenn es dir gelingt, ihn abzuweisen, ist er nicht der richtige Mann.«
    Ihr Blick kehrte zu dem Videomonitor zurück, der nun eine leere Lobby zeigte. Wenn er nicht der Mann war, dessen Eintreffen Sora vorhergesagt hatte, warum spürte sie dann ein Gefühl des Verlusts, nun, da er fort war?
     
    Asasel zerrte an dem beengenden Krawattenknoten, während er Watanabes Bürotür zuzog und versperrte. Welch ein erhellender Händedruck das gewesen war! Er betätigte einen Knopf neben der zimmerhohen Fensterfront, und sie verdunkelte sich sofort.
    Murdoch hatte keine Seele.
    Sehr merkwürdig. Die einzigen seelenlosen Kreaturen, die sich auf der mittleren Ebene bewegten, waren die unsterblichen Krieger, die die Herrin des Todes damit betraut hatte, die Seelen der Toten zu holen. Vieles hatte sich in den zweitausend Jahren verändert, die er gefangen im Sumpf der Zwischenwelt verbracht hatte, aber das nicht. Darauf verwettete er die Federn seiner Schwingen. Aber zu seiner Zeit waren die Seelenwächter nicht auf der Suche nach dunklen Reliquien quer durch die Welt gereist.
    Er murmelte eine kurze Zauberformel, und innerhalb eines Wimpernschlags, ohne einen einzigen verräterischen roten Funken, war er auf die schattenhafte Burg zurückgekehrt, die seine Speichellecker ihm errichtet hatten. Reisen aus der Zwischenwelt und wieder zurück unterlagen nicht denselben Beschränkungen wie Reisen aus der Hölle. Er wusste nicht genau warum, aber die Logik legte nahe, dass dies so war, weil die Zwischenwelt innerhalb der Schranken existierte. Nicht, dass es ihn gekümmert hätte. Es zählte allein, dass er, während seine Kraft wiederkehrte, die Fähigkeit erlangte, sein Gefängnis nach Belieben zu verlassen und die mittlere Ebene zu betreten.
    »Schaff mir eine Seele herbei, die ich essen kann«, befahl er der nebelhaften schwarzen Gestalt, die im Schatten neben der Tür schwebte.
    Sobald sie sich hastig davongemacht hatte, zauberte Asasel eine Flasche schweren Rotweins herbei. Er riss den Korken heraus und stürzte eine reichliche Menge hinunter, um den Geschmack des grünen Tees fortzuspülen.
    Eines war gewiss: Murdoch war ebenso wie er auf der Suche nach dem Tempelschleier. Ohne ihn würde er nicht heimkehren. Warum sonst sollte der Mann in Rom gewesen sein, als Asasels Gradioren auftauchten, um die Aufzeichnungen des Protektorats über den Schleier an sich zu bringen? Warum sonst sollte er nun hier sein? Obwohl es erfreulich gewesen wäre, wenn der Bursche den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hätte und dahin verschwunden wäre, woher er gekommen war, hatte das entschlossene Flackern in seinen Augen schon angedeutet, dass er wiederkommen würde. Die einzige offene Frage war gewesen, wann.
    Es wurde Zeit, die Dinge etwas zu beschleunigen.
    Kein freundliches Werben um Kiyoko mehr. Das Wissen um den Verbleib des Schleiers war in ihrem hübschen Kopf gespeichert, und er beabsichtigte, es aus ihr herauszupressen. Mit Gewalt, wenn nötig. Wenn er sich der arkanen Magie bediente, um ihre Gedanken zu öffnen, konnte das die Erzengel alarmieren, doch dieses Risiko musste er eingehen. Seinem neuen Rivalen einen Schritt voraus zu sein war von größter Wichtigkeit.
    Die Tür öffnete sich, und ein frisch gemordeter Körper – mit noch unberührter Seele – wurde zu ihm hereingeworfen.
    Asasel lächelte.
    Nichts durfte seine triumphale Rückkehr von den Toten vereiteln.

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    W arten gehörte nicht zu Murdochs
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