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Xeelee 3: Ring

Xeelee 3: Ring

Titel: Xeelee 3: Ring
Autoren: Stephen Baxter
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daß du mir deine Fragen stellst.«
    Lieserl schniefte. »Welche Fragen?«
    »Die Fragen, die du bereits seit dem Augenblick deiner Geburt mit dir herumträgst.« Phillida lächelte. »Ich konnte es in deinen Augen sehen, schon in jenem Moment. Du armes Ding… mit so viel Bewußtsein belastet zu sein. Es tut mir leid, Lieserl.«
    Lieserl rückte von ihr ab. Plötzlich verspürte sie Kälte und Verletzlichkeit.
    »Wer bin ich, Phillida?« fragte sie dann.
    »Du bist meine Tochter.« Phillida legte die Hände auf Lieserls Schultern und kam mit dem Gesicht dicht an sie heran; Lieserl konnte ihren warmen Atem spüren, und das weiche Licht des Zimmers betonte das Grau im blonden Haar ihrer Mutter und ließ es aufleuchten. »Vergiß das nie. Du bist so menschlich, wie ich es bin. Aber…« Sie zögerte.
    »Aber was?«
    »Aber du wirst – konstruiert.«
    »Es befinden sich Nanobots in deinem Körper«, sagte Phillida. »Weißt du, was ein Nanobot ist? Eine Maschine im molekularen Maßstab, die…«
    »Ich weiß, was ein Nanobot ist«, erwiderte Lieserl. »Ich weiß alles über AntiSenescence und Nanobots. Ich bin kein Kind mehr, Mutter.«
    »Natürlich nicht«, bestätigte Phillida ernst. »Aber in deinem Fall, mein Liebling, sind die Nanobots programmiert worden – nicht, um den Alterungsprozeß umzukehren, sondern um ihn zu beschleunigen. Verstehst du?«
    Nanobots schwärmten durch Lieserls Körper. Sie beschichteten ihre Knochen mit Kalzium, stimulierten die Zellteilung und veranlaßten ihren Körper, sich wie eine absurde menschliche Sonnenblume zu entfalten – sie implantierten sogar Erinnerungen und synthetische Lerninhalte direkt in ihren Cortex.
    Lieserl war versucht, sich die Haut aufzukratzen und diese künstliche Infektion zu beseitigen. »Warum? Warum habt ihr zugelassen, daß so etwas mit mir geschieht?«
    Phillida rückte dicht zu ihr auf, aber Lieserl blieb steif und sträubte sich schweigend. Phillida vergrub das Gesicht in Lieserls Haar; Lieserl spürte das leichte Gewicht der Wange ihrer Mutter auf dem Kopf. »Noch nicht«, sagte Phillida. »Noch nicht. Noch ein paar Tage, mein Liebes. Das ist alles…«
    Phillidas Wangen wurden wärmer, als ob sie still in das Haar ihrer Tochter weinte.

    Lieserl kehrte zu dem Brettspiel mit den Schlangen und Leitern zurück. Ihr wurde bewußt, daß sie ihr Werk mit Freude, aber auch mit einer nostalgischen Traurigkeit betrachtete; sie distanzierte sich emotional von dieser ausgeklügelten, leicht obsessiven Kreation.
    Sie war bereits zu alt dafür.
    Sie ging in die Mitte des funkelnden Brettes und ließ eine dreißig Zentimeter durchmessende Sonne aus dem Zentrum ihres Körpers entstehen. Licht überflutete das Brett und zerbrach es.
    Sie war indessen nicht die einzige Erwachsene, die solche Phantasiewelten erschaffen hatte. Sie erfuhr von den Brontes, die zurückgezogen im Norden Englands in einer gemeinsamen Welt aus Königen und Prinzen und Imperien gelebt hatten. Und sie informierte sich über die Herkunft des simplen Spiels der Schlangen und Leitern. Es stammte aus Indien, wo es als pädagogisch wertvolle Lernhilfe mit der Bezeichnung Moksha-Patamu entwickelt worden war. Es basierte auf zwölf Sünden und vier Tugenden, und das Ziel war das Eingehen ins Nirwana. Man konnte auf jeden Fall eher verlieren als gewinnen… Die Briten hatten es im neunzehnten Jahrhundert zu einem ›Knigge‹ für Kinder mit der Bezeichnung Kismet modifiziert. Dreizehn Schlangen und acht Leitern demonstrierten den Kindern, daß sie, wenn sie artig und folgsam waren, ein gutes Leben erwarten konnten.
    Aber schon nach wenigen Jahrzehnten hatte das Spiel seine moralische Konnotation verloren. Lieserl stieß auf Bilder aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die einen traurig dreinblickenden Clown zeigten; er rutschte hilflos an Schlangen hinab und kletterte tapfer Leitern hinauf. Lieserl betrachtete ihn und versuchte zu ergründen, was an der ausgebeulten Hose, dem Spazierstock und dem kleinen Schnauzbart so witzig gewesen sein sollte.
    Das Spiel hatte mit seinem Charme und seiner Unkompliziertheit die zwanzig Jahrhunderte überdauert, die seit dem Tod jenes vergessenen Clowns mittlerweile vergangen waren.
    Sie entwickelte Interesse für die in den verschiedenen Versionen des Spiels enthaltenen Zahlen. Die Zwölf-zu-Vier-Quote von Moksha-Patamu machte es eindeutig zu einem anspruchsvolleren Spiel als die Dreizehn-zu-Acht-Relation von Kismet – aber um wieviel schwieriger?
    Sie begann
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