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Wünsche (German Edition)

Wünsche (German Edition)

Titel: Wünsche (German Edition)
Autoren: Tobias Jäger
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mich wieder. Eine Weile lang starrte ich den Umschlag an. Er musste den Brief geschrieben haben, bevor wir uns kennengelernt hatten. Aber warum? Ich öffnete den Umschlag und nahm den einseitigen Brief heraus. Er war von Hand geschrieben.
Hi Papa,
wenn du das hier liest, heißt es, dass mein Plan funktioniert hat. Vor drei Tagen hat mir mein Arzt gesagt, dass ich bald sterben werde und dass ich noch früher nichts mehr sehen können werde. Vorgestern haben sie mir dann von deinem Verein erzählt und dass ich mir etwas wünschen darf. Ich habe im Internet nach dem Verein gesucht und auch über dich ein bisschen gelesen. Besonders nett scheinst du nicht zu sein, wenn man liest, was über dich in der Zeitung steht. Ich kann das aber nicht glauben. Warum solltest du diesen Verein haben, wenn du ein Arschloch bist?
Ich habe mir schon immer einen Vater gewünscht und ich habe gehofft, dass du mich adoptieren würdest. Wenn du diesen Brief liest, hat das scheinbar funktioniert. Aber es heißt auch, dass ich jetzt nicht mehr lebe. Ich muss zugeben, ich bin froh darüber. Denn die Kopfschmerzen, die ich in letzter Zeit habe, sind einfach unerträglich. Ich halte das nicht aus. Bitte sei nicht traurig. Ich hätte auch gerne mehr Zeit mit dir verbracht. Aber ich bin froh, wenn ich diese Schmerzen nicht mehr ertragen muss.
Ich muss dir etwas gestehen. Ich war nicht ganz ehrlich zu dir. Ich habe mir gewünscht, dich kennenzulernen, damit du mich adoptierst. Zumindest denkst du das. Mein Wunsch ist aber ein anderer und ich hoffe, dass du ihn mir erfüllen kannst. Ich möchte, dass du dich um Leon kümmerst, denn er wünscht sich genauso sehr einen Vater wie ich. Das ist mein echter Wunsch. Er braucht dich auch, David. Bitte, bitte, bitte! Erfülle mir diesen Wunsch.
Dein Julian
    Ich starrte den Brief an, während meine Tränen auf das Blatt tropften. An der Tür räusperte sich jemand. Ich schaute auf und konnte durch meine Tränen nichts sehen. Ich erkannte lediglich eine schmächtige Gestalt, die in der Tür stand.
    Ich griff in meine Tasche und zog ein Taschentuch hervor, mit dem ich mir die Tränen aus den Augen wischte. Dann schaute ich wieder auf und mein Herz setzte einen Moment lang aus. Diese blonden Haare und die blauen Augen. Mir lief ein Schauer über den Rücken.
    »Julian«, flüsterte ich.
    Es war unmöglich.
    »Ich bin Leon«, sagte der Junge, der mich neugierig ansah. »Julian war mein Zwillingsbruder.«
    Seine Augen füllten sich mit Tränen, die er zurückzuhalten versuchte.
    »Wer hat dir gesagt ‒?«
    »Niemand«, unterbrach er mich. »Ich habe es gespürt.«
    Die Gedanken rasten in meinem Kopf. Erst jetzt verstand ich die Bemerkung der Betreuerin und ihren komischen Blick bei meinem ersten Besuch. Unglaublich, wie verschieden zwei Menschen sind, die sich ansonsten so ähneln , hatte sie gesagt. Ich musste schmunzeln, denn ähneln war eine riesige Untertreibung.
    Dr. Hartmann musste es gewusst haben. Warum hatte er nichts gesagt? Auch Richter Ahrens musste es gewusst haben. Auch er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass Julian einen Bruder hatte ‒ ganz zu schweigen davon, dass er einen Zwillingsbruder hatte.
    Leon gelang es nicht, seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Er senkte den Kopf und brach in Tränen aus. Ich legte den Brief auf das Bett und stand auf. Ich ging schnell zu Leon und nahm ihn in den Arm. Er legte den Kopf an meine Brust und schluchzte. Dann schlang er seine Arme um mich. Seine Umarmung war so fest, dass mir einen Moment die Luft weg blieb.
    »Sie sind David?«, fragte Leon, nachdem er sich wieder ein wenig beruhigt hatte.
    Er hielt mich weiter fest.
    »Ja«, war alles, was ich heraus brachte.
    Leon hob seinen Kopf und schaute mich an. Ich sah ihm in die Augen. Diese tiefblauen Augen, die mich schon drei Wochen zuvor fasziniert und in ihren Bann gezogen hatten.
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