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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen?
Autoren: Alice Munro
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ihm alles zum Guten ausgeschlagen.
    Und ich bin glücklich, jemanden gefunden zu haben, der mich immer noch als Mitglied meiner Familie sehen kann, der sich an meinen Vater erinnern kann und an den Ort, wo meine Eltern ihre ganze Ehe lang lebten und arbeiteten, erst voller Hoffnungen und dann mit tapferer Beharrlichkeit. Ein Ort, an dem ich selten vorbeifahre und den ich kaum noch mit dem Leben, das ich jetzt führe, in Verbindung bringen kann, auch wenn er nicht viel mehr als zwanzig Meilen weit fort ist.
    Er hat sich natürlich verändert, völlig verändert, ist ein Autoschrottplatz geworden. Die Höfe vor und neben dem Haus, der Gemüsegarten und die Blumenrabatten, die Wiese, der Falsche Jasmin, die Fliederbüsche, der Kastanienstumpf, die Viehweide und der Grund, auf dem die Fuchskäfige standen, sie alle sind überschwemmt von einer Flut aus Autoteilen, ausgeweideten Karosserien, zertrümmerten Scheinwerfern, Kühlergrills, Stoßstangen, herausgerissenen Autositzen, aus denen verrottende Füllung quillt – Haufen lackierten, verrosteten, schwarzen, glänzenden, ganzen oder verbogenen, Widerstand leistenden und überlebenden Metalls.
    Aber nicht nur das beraubt ihn für mich seiner Bedeutung. Nein. Sondern auch die Tatsache, dass er nur zwanzig Meilen weit fort ist, dass ich ihn jeden Tag sehen kann, wenn ich will. Der Vergangenheit muss man sich aus einer gewissen Entfernung nähern.
    Rachels Mutter fragt uns, ob wir uns die Kirche gerne von innen ansehen würden, bevor wir nach Scone weiterfahren, was wir bejahen. Wir gehen den Hügel hinunter, und sie führt uns gastfreundlich in das mit roten Läufern ausgelegte Innere. Es riecht ein wenig feucht oder muffig, wie es in Gebäuden aus Stein oft der Fall ist, auch wenn sie völlig sauber gehalten werden.
    Sie erzählt uns etwas über den Bau und seine Gemeinde.
    Die Kirche, so wie sie heute steht, wurde erst vor einigen Jahren erbaut, neben einer Sonntagsschule und der Küche darunter.
    Die Glocke wird immer noch beim Tod eines Gemeindemitglieds geläutet. Ein Glockenschlag für jedes Lebensjahr. Alle innerhalb Hörweite können lauschen und die Glockenschläge zählen und überlegen, für wen es sein mag. Manchmal ist es einfach – jemand, dessen Tod man erwartet hat. Manchmal ist es eine Überraschung.
    Sie erwähnt, dass das Portal der Kirche modern ist, wie uns aufgefallen sein muss. Vor seiner Errichtung gab es einen großen Streit zwischen denen, die es für notwendig hielten und sogar mochten, und jenen, die es ablehnten. Schließlich gab es eine Spaltung. Die Gegner wanderten nach Williamsford ab und bildeten dort eine eigene Gemeinde, mit eigener Kirche, aber demselben Hirten.
    Der Hirte ist eine Frau. Bei der letzten Suche nach einem Geistlichen waren fünf der sieben Bewerber Frauen. Diese Pfarrerin ist mit einem Tierarzt verheiratet und war früher selber Tierärztin. Alle mögen sie. Obwohl es einen Mann von den Altlutheranern in Desboro gab, der bei einer Beerdigung hinausmarschierte, als er merkte, dass sie dabei predigte. Die Vorstellung einer predigenden Frau war ihm unerträglich.
    Die Altlutheraner gehören zur Missouri-Synode, und so sind sie eben.
    Vor einiger Zeit brach in der Kirche ein großes Feuer aus. Es verwüstete einen großen Teil des Inneren, aber das Mauerwerk wurde nicht beschädigt. Als hinterher die Innenwände abgescheuert wurden, gingen mit dem Ruß auch Farbschichten ab, und darunter wartete eine Überraschung. Ein schwacher deutscher Text, in deutscher Frakturschrift, der sich nicht abwaschen ließ. Er war unter der Farbe verborgen gewesen.
    Und da steht er. Er wurde aufgefrischt, und da steht er.
    Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt
. Das steht auf der einen Seite. Und auf der anderen:
Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinen Wegen
.
    Niemand hatte gewusst, niemand hatte sich mehr daran erinnern können, dass die deutschen Worte dort standen, bis das Feuer und die Reinigung sie an den Tag brachten. Sie müssen irgendwann übermalt worden sein, und hinterher sprach niemand mehr davon, und so gerieten sie vollkommen in Vergessenheit.
    Wann? Sehr wahrscheinlich geschah es zu Beginn des Ersten Weltkrieges, dem Krieg von 1914 bis 1918 . Nicht die richtige Zeit für deutsche Schrift, sogar wenn die Worte der Heiligen Schrift entstammten. Und nichts, worüber man reden mochte, noch viele Jahre lang.
    Von dieser Frau durch die Kirche geführt zu werden gibt mir ein Gefühl
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