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World's End

World's End

Titel: World's End
Autoren: T.C. Boyle
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Strömung war auf einmal warm wie ein palmenumsäumter Jacuzzi-Whirlpool. »Häh?« machte er.
    Was sie von ihm wollte, die da wie eine Nixe spät in der Nacht das schlammige Wasser des alten Hudson trat, über sich riesenhaft hoch den großen V-förmigen Bug des Schiffes, waren tollkühne Aktionen. Heldentaten. Beweise von Stärke und Geschicklichkeit. Sie wollte, daß Walter sich an der Ankerkette emporhangelte wie ein nackter Pirat und in das unergründliche Dunkel des geheimnisvollen Schiffes verschwand, um dort das Durcheinander seiner Geheimnisse zu entwirren, seine Struktur über den Tastsinn zu absorbieren und sich die Anordnung der Decks einzuprägen. Oder so ähnlich. »Meine Arme sind zu schwach«, sagte sie. »Ich kann es nicht selber machen.«
    In einiger Entfernung fuhr ein Schlepper vorbei, der einen Leichter zog. Dahinter konnte Walter die schwachen Lichter von Peterskill erkennen, verschwommen in der Ferne und durch die Dunstglocke, die über der Mitte des Flusses hing.
    »Mach schon!« stachelte sie ihn an. »Nur mal reingucken.«
    Walter dachte an den angeblichen Nachtwächter, die Strafe, die auf Betreten von Bundesbesitz stand, seine Höhenangst, die verkaterte, narkotisierte, schlaftrunkene Verfassung seines Geistes und Körpers, die jede Bewegung riskant machte, und sagte: »Warum nicht?«
    Hand über Hand, Fuß über Fuß kletterte er die Kette hinauf wie ein wahrer Nihilist und existentialistischer Held. Was hieß schon Gefahr? Das Leben besaß weder Sinn noch Wert, man lebte nur auf den eigenen Untergang hin, auf die Leere und das Nichts. Es war gefährlich, auf einem Sofa zu sitzen, eine Gabel zum Mund zu heben, sich die Zähne zu putzen. Gefahr. Walter lachte ihr ins Gesicht. Natürlich hatte er, trotz alledem, schreckliche Angst.
    Zwei Drittel der Strecke hinter sich, verlor er den Halt und krallte sich an die Kette wie ein Wahnsinniger. Sechs Liter Blut rauschten ihm in den Ohren. Unter ihm Schwärze; über ihm die schattenhaften Umrisse der Reling. Walter holte tief Luft und zog sich dann weiter, baumelte hoch über dem Wasser wie eine große bleiche Spinne. Als er endlich oben ankam, als er endlich eine tastende Hand ausstrecken und seine Haut die mächtige, kalte Festung des Schiffsrumpfs berühren konnte, bemerkte er, daß die Ankerkette in einem böse blickenden bullaugenartigen Ding verschwand, das auf ihn wie das monströse, eingeschlagene Piratenauge der gesamten Gespensterflotte wirkte. Er lehnte sich zurück, um die riesigen Blockbuchstaben zu entziffern, die das alte Wrack identifizierten – U.S.S. Anima –, zögerte einen Augenblick und schlüpfte dann durch das Bullauge.
    Jetzt war er im Innern, in einem undurchsichtigen Raum von äußerster, unwahrscheinlicher, ungemilderter Finsternis. Nackte Füße traten auf nackten Stahl, seine Finger tasteten die Wände entlang. Es roch nach verrottendem Metall, Ölschlick und aufgeweichter Farbe. Zentimeter für Zentimeter arbeitete er sich vorwärts, bis sich Schatten aus dem Dunkel schälten und er auf einmal auf dem Hauptdeck stand. Vor ihm war eine geschlossene Luke, darüber erhoben sich der Großmast und einige Laderäume. Der Rest des Schiffes – Kabinen, Rettungsboote, Masten und Kräne – lag im Dunkeln. Er hatte das Gefühl, als befände er sich in großer Höhe, als flöge er in einem Düsenflugzeug hoch über den Wolken und wankte durch den Mittelgang. Hier gab es nichts außer Schatten. Und das tausendfache Quietschen und Knirschen von lebloser Materie in leiser, rhythmischer Bewegung.
    Aber irgend etwas stimmte nicht. Etwas an diesem Ort schien die Flammen der Vergangenheit neu zu entfachen, die den ganzen Tag an ihm geleckt hatten. Er blieb reglos stehen und hielt den Atem an. Als er sich umwandte, war er kaum überrascht, seine Großmutter auf der Reling sitzen zu sehen. »Walter«, sagte sie, und in ihrer Stimme knisterten statische Störungen, als unterhielten sie sich über eine schlechte Fernsprechverbindung. »Walter, du hast ja nichts an.«
    »Aber Oma«, sagte er, »ich war doch schwimmen.«
    Sie trug ein weites Sackkleid, und sie war genauso fett wie im Leben. »Egal«, sagte sie und winkte mit dem runzeligen Handgelenk ab, »ich wollte dir etwas über deinen Vater erzählen, ich wollte dir erklären ... ich –«
    »Ich brauche keine Erklärungen«, schimpfte eine Stimme hinter ihm.
    Walter fuhr herum. Das ging jetzt schon den ganzen Tag so – ja, seit er am Morgen die Augen aufgemacht hatte –, und ihm
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