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Wolfspfade 6

Wolfspfade 6

Titel: Wolfspfade 6
Autoren: Lori Handeland
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leicht. Ich überlegte, wie er wohl aussah, wenn er lächelte, dann schob ich den Gedanken beiseite. Ich bezweifelte, dass ein solcher Ausdruck je über sein Gesicht huschte, was wirklich traurig war.
    Wobei mir einfiel, dass traurig exakt das war, wie er im hellen Schein des Deckenlichts gewirkt hatte, bevor er eine Sekunde später aufgesprungen und auf mich zugekommen war.
    „Sie bevorzugen Frauen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich könnte Ihre Meinung ändern.“
    Ich schnaubte. Eine typische Macho-Antwort – so als würde eine einzige Nacht mit ihm genügen, um jedermanns sexuelle Vorlieben zu ändern.
    „Nicht, dass es Sie etwas angeht, aber ich bevorzuge keineswegs Frauen. Was ich bevorzuge, ist, endlich zum Punkt zu kommen.“
    „Der da wäre?“
    Ich hielt noch immer das Foto in der Hand, aber da es mir bei Rodolfo nichts nützen würde, schob ich es in die Tasche meiner Jeans. „Ich suche nach meiner verschwundenen Schwester.“
    Jedes Anzeichen von Belustigung fiel von ihm ab. „Was hat das mit mir zu tun?“
    „Jemand hat mir ein Foto von ihr geschickt, auf dem sie vor diesem Jazzclub steht.“
    „Und Sie wollen wissen, ob ich sie gesehen habe?“ Er breitete die Hände aus. „Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe schon ziemlich lange niemanden mehr gesehen.“
    „Ihr Name war … ist Katie. Katie Lockheart.“
    Den Schnitzer hatte ich schon früher gemacht: von Katie zu sprechen, als ob sie tot wäre. Nach drei Jahren fiel es schwer, das nicht zu tun.
    Ich hatte in genügend Vermisstenfällen ermittelt, um zu wissen: Wenn jemand nicht in den ersten sechsunddreißig Stunden gefunden wurde, bedeutete dies, dass man die Person meist auch nicht mehr lebend finden würde. Insgeheim darum betend, dass die Statistiken in Katies Fall eine Ausnahme machen würden, tätschelte ich meine Hosentasche.
    „Hab noch nie von ihr gehört“, murmelte Rodolfo.
    „Was nicht heißen muss, dass sie nicht hier war.“
    „Das stimmt.“ Er stand so nah, dass sein Atem über meine Haare strich. Obwohl die Tür offen war und das Licht brannte, fühlte ich mich bedrängt, verloren und ein bisschen wie in einer Falle.
    Ich rückte von ihm ab. „Ich habe zwar schon mit dem Barkeeper gesprochen, würde mich aber gern noch mit Ihren anderen Angestellten unterhalten …“
    „Da sind keine.“
    „Keine was?“
    „Andere Angestellte.“
    „Aber …“
    „Wir haben noch nicht sehr lange geöffnet.“
    „Wie lange genau?“, hakte ich nach.
    Falls das Rising Moon ein neues Lokal war, würde das dem Foto eine zeitliche Datierung geben und mir eine bessere Vorstellung davon, wann Katie hier gewesen sein könnte.
    „Weniger als ein Jahr.“
    „Wie hieß der Club davor?“
    „Genauso. Ich habe nicht viel gemacht, außer aufzuräumen und die Vorräte aufzufüllen.“
    „Das Äußere ist unverändert? Sie haben kein neues Schild gekauft?“
    „Nein.“
    Meine Aufregung verpuffte wie Luft aus einem durchlöcherten Ballon.
    „Wir hatten ein paar Cocktail-Kellnerinnen, aber im Gastronomiegewerbe …“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Leute kommen und gehen. Wir sind ständig unterbesetzt, und das, obwohl ich neben dem Gehalt ein Zimmer biete. Viele der billigen Apartments sind von Katrina davongeschwemmt worden.“
    „Ist einer ihrer früheren Mitarbeiter vielleicht noch in der Stadt und arbeitet woanders?“
    „Nicht, dass ich wüsste, aber das muss nichts heißen.“
    Seufzend zog ich den Schnappschuss aus der Tasche und betrachtete das Konterfei meiner Schwester. Katie war immer das Goldkind gewesen, und das meine ich wörtlich. Während meine Haare von eher unbestimmbarer Farbe waren, leuchteten ihre wie die Strahlen einer Morgensonne. Meine Augen hatten die Tönung einer Matschgrube, ihre schienen das tiefste Meeresblau zu reflektieren. Ihre Nase war gerade und niedlich, ihre Haut hell und rein. Und dann ihr Körper … Ich will es mal so ausdrücken: Als Gott Körbchengrößen vergab, schenkte er Katie drei Viertel von meiner noch dazu.
    Man sollte meinen, dass ich jemanden von solcher Perfektion hassen müsste, und manchmal hatte ich das auch getan. Nur dass Katie neben all ihrer Schönheit auch wirklich lieb war und man unwahrscheinlich viel Spaß mit ihr haben konnte. Als Kinder hatten wir tausend Variationen von Verstecken gespielt – Katie gewann immer, aber das machte mir nichts aus, so sehr genoss ich es, mit ihr zusammen zu sein.
    Die Suche nach ihr war für mich zur Besessenheit geworden,
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