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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition)
Autoren: Mira Magén
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nie im Leben daraus entfernen können.«
    »Na und, was ist schlecht an Kalzium?« Er versuchte auf seine Art, mich zu überzeugen. Erziehung ist alles für ihn, würde er schweigen, würde er sich gegen das Gebot vergehen: Du sollst auch nicht stehen wider deines Nächsten Blut.Die Herbsttage, die am Rand des Dorfes Meerzwiebeln wachsen und die Blätter von den Pflaumenbäumen fallen ließen, hatten auch auf den Alten ihre Wirkung. Mit dem Himmel, der sich senkte, fiel seine Feindseligkeit Schicht um Schicht von ihm ab und verwandelte sich in Traurigkeit. Er stand weiterhin am Fenster und schaute zu, wie wir kamen und gingen, und beobachtete die Schuhgröße des Jungen, aber er ballte nicht mehr die Hände zu Fäusten und hörte auf, die Hühner zu verfluchen, die in seinem Hof scharrten. Ich klopfte an seine Tür, und er machte sie weit auf, er gab nach und ließ mich an sich vorbeigehen. »Treten Sie ein, schauen Sie sich um, sehen Sie, was für ein Haus wir gebaut haben, wir dachten, wir würden uns hier an Enkeln und Urenkeln erfreuen, und Gott sah, wie wir bauten, und lachte über jeden Ziegelstein, den wir auf den anderen legten  …« Ich erschrak über die Niedergeschlagenheit in seiner Stimme, ich wünschte, er würde sich wieder fangen und schimpfen und fluchen und mich hinauswerfen.
    Ich schaute mir das Haus nicht an, ich saß in seinem Wohnzimmer in einem grauen Sessel und blickte mich nicht um, er saß mir gegenüber auf dem Sofa, breitete die mageren Arme auf der Lehne aus, hatte das lange Gesicht gesenkt und sah aus wie ein alter, erschöpfter Adler. Hinter ihm lag ein Stapel Papiere, auf die er in seinen guten Tagen Gottes Zorn aufgeschrieben und in unseren Briefkasten geworfen hatte, und um den Eindruck zu verwischen, auch in seinen.
    »Sie waren das also«, sagte ich, obwohl ich es gewusst hatte. An dem Tag, als er ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte das Phänomen aufgehört, und die Verbindung zwischen ihm und den abgeschnittenen Zetteln ergab sich von allein.
    »Die Menschen hier brauchen Erziehung, wenn ich genug Kraft hätte, würde ich weitermachen.« Er bewegte die Hand und ließ sie fallen, um zu zeigen, dass er keine Kraft mehr hatte. Und weil er auf jede Abwehr verzichtete, verzichtete auch ich und berichtete ihm, dass wir bei Amos gewesen waren, und ich erzählte ihm von dem toten Jungen, der hinter Glas lebte. Ich erzählte von dem Anwesen, den Pferden und Hunden, und er schwieg, plötzlich nahm er die Hände von der Lehne und stand auf, seine spitzen Knie knirschten, er verließ entschlossen das Zimmer und kam gleich darauf zurück, ein Holzkästchen an die Brust gedrückt. Er stellte das Kästchen auf den niedrigen Tisch zwischen uns beiden. »Man öffnet den Sarg«, sagte er und nahm den Deckel ab. Braune Kinderschuhe standen auf einem blauen Samtstreifen, die Schuhe waren zerquetscht, sie waren lange herumgerannt, bis die Füße, zu denen sie gehörten, gestorben waren. Die Spitzen waren abgewetzt, ein Schnürsenkel war offen, ihm fehlte das Plastikteil am oberen Ende.
    »Hören Sie, ich möchte mit Ihnen ein Abkommen schließen, ich nehme keine Miete von Ihnen, und Sie verpflichten sich, dafür zu sorgen, dass dieser heilige Schrein mit den Schuhen zusammen mit mir begraben wird.« Er stand über mir und sagte, er wolle, dass man die Schuhe des Jungen neben seinem alten Schädel finde, wenn man nach der Ankunft des Messias sein Grab öffnete.
    »Was, wissen Sie denn nicht, dass Schuhe länger halten als Knochen? Lesen Sie keine Bücher? Haben Sie nicht gehört, dass man in den Höhlen von Massada Schuhe gefunden hat? Und haben Sie die Schuhberge von Auschwitz gesehen? Von den Menschen ist nur ein Haufen Asche geblieben, und die Schuhe? Seit sechzig Jahren warten sieschon, gibt man ihnen Füße, fangen sie an zu laufen.« Er winkte mir, ihm zu folgen, und zeigte mir die Schublade mit Bettwäsche und Tischdecken, unter denen er die Schuhe versteckte.
    »Deshalb habe ich seinem Vater keinen Schlüssel gegeben. Verstehen Sie? Schoschana hat einen Schlüssel, aber sie hat keine Ahnung, wo ich die Schuhe verstecke. Mit ihr kann ich kein Abkommen schließen, ihr Herz ist weich wie Butter, sie würde sie ihrem Bruder aus lauter Mitleid geben.«
    Von dem Tag an, als ich die Verantwortung für die letzten Tage der Schuhe übernahm, bewachte der Alte unsere Schritte noch genauer als zuvor, vom frühen Morgen bis zum späten Abend stand er am Fenster. Der Zorn, an den wir uns
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