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Wir zwei sind Du und Ich

Wir zwei sind Du und Ich

Titel: Wir zwei sind Du und Ich
Autoren: Diana Raufelder
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angeschrien hat. Aber sie war einfach so wütend gewesen!
    „Morgen kommt die Reportage über Leonard Cohen auf Arte. Wollen wir die zusammen anschauen?“
    Ri weiß, dass das ein Versöhnungsangebot ist und obwohl sie sich gerne versöhnen würde, schafft sie es nicht, über ihren Schatten zu springen. „Hm, mal sehen.“ Einen Moment lang überlegt sie, fragt dann aber doch: „Mum, erinnerst du dich noch an Ben?“
    Überrascht blickt ihre Mutter sie an. „Klar, ihr habt ja Tag und Nacht zusammengehangen. Wie kommst du denn jetzt darauf?“
    Gerade als Ri antworten will, dreht sich ein Schlüssel im Schloss und Ris Vater steht mit seinem schwarzen Mantel und der wichtig aussehenden Aktentasche im Flur. „Hallo ihr zwei!“, ruft er in die Küche. Ri verdreht die Augen. Muss er immer dann auftauchen, wenn es gerade ein bisschen schön ist? Sonst arbeitet er doch auch länger. Eigentlich arbeitet er immer. Tag und Nacht. Und wenn nicht in seinem Büro an der Uni, dann zu Hause vor seinem PC.
    Von ihrem Platz am Tisch aus beobachtet sie ihn, wie er seinen Mantel an die Garderobe hängt. Der Anzug, in dem er steckt, und die rote Krawatte lassen ihn wie einen hässlichen Pinguin aussehen, findet Ri. Dabei hat sie ihren Vater früher so bewundert! Als sie klein war, war er der Allergrößte für sie – ihr Held! Obwohl er so selten Zeit für sie hatte, weil er auch damals schon immerzu gearbeitet hat. Aber wenn er dann sonntags ausnahmsweise mit ihr in den Park gegangen war und sie auf seinen Schultern sitzen durfte, dann war das umso schöner. Ein sicherer Platz! Er kam ihr so groß und stark vor. Die Leute behandelten ihn mit Respekt. Selbst der Mann im Obstladen, der Ri immer nur böse anfunkelte, wenn sie mit Ben Wassereis kaufte, war zu Ris Vater freundlich und zuvorkommend. Er lächelte ihn sogar an. Manchmal dachte Ri, dass sich die Leute vielleicht vor ihrem Vater fürchteten und deshalb nett zu ihm waren. Ri fürchtete sich nämlich manchmal schon vor ihrem Vater. Vor allem, wenn er wütend war. Dann war er so groß und stark, dass Ri sich wie ein winziges Reiskorn vorkam, das unter den riesigen Füßen ihres Vaters leicht hätte zertreten werden können.
    Jetzt bewegt sich der Pinguin ungeschickt, um seine Schuhe auszuziehen. Während er sie ins Schuhregal einreiht, strahlt seine Halbglatze Ri entgegen.
    „Deine Glatze wird auch immer größer, Papa.“
    „Deine Begrüßungen werden auch immer reizender, Ricarda.“ Er will ihr einen Kuss auf die Wange drücken, aber sie weicht ihm aus. Ihr Vater riecht nach Rasierwasser, das Ri nicht mag. Und nach abgestandenem Kaffee.
    „Habt ihr die Mathearbeit schon zurück?“ Ris Vater besitzt das Talent, bei Ri mit wenigen Worten unangenehme Gefühle hervorzurufen. Sie versucht sich auf die dampfenden Nudeln zu konzentrieren und schüttelt nur den Kopf.
    „Setz dich mal gerade hin! Du bekommst sonst noch einen Buckel.“ Mit seiner großen, fleischigen Hand drückt er auf Ris Rücken herum. „Das kommt davon, weil du nie Sport machst!“ Er mustert seine Tochter. „Überhaupt könntest du mehr auf dein Aussehen achten! Was sollen denn all die Ohrringe? Und die ganze Schminke!“ Er schüttelte den Kopf. „Dass deine Haut überhaupt noch atmen kann.“
    Ri versucht, ruhig zu bleiben und einfach weiter zu essen. Bringt ja eh nichts, wenn ich mich mit ihm auseinandersetze, denkt sie.
    „Ach, lass sie doch, Herbert“, lenkt ihre Mutter ein. Ri schenkt ihr einen dankbaren Blick.
    „Wir hatten gerade über Ben gesprochen, bevor du kamst.“
    Ris Vater legt die Stirn in Falten. „Das war doch dieser Türkenjunge, der mich mal beklaut hat.“
    Ri lässt die Gabel fallen und springt auf. „Ben hat dich nie beklaut! Oder hast du ein Problem damit, dass sein Vater Türke ist?“
    „Ricarda, setz dich sofort wieder hin!“
    Aber da ist Ri schon nach oben gerannt. Sicherheitshalber schließt sie sich in ihrem Zimmer ein. So ein Arsch! Sie könnte platzen vor Wut! Echt zum Kotzen! Am schlimmsten ist diese Hilflosigkeit, denkt Ri.
    Wütend setzt sie setzt sich vor den Spiegeltisch und betrachtet ihr Gesicht. Nichts daran gefällt ihr: weder die stupsige Nase, noch die Sommersprossen, die man nicht überschminken kann und schon gar nicht die braunen, großen Augen, die alle so niedlich finden. Aber wenigstens sieht sie ihrem Vater kein bisschen ähnlich. Sie blickt zu dem Poster von Leonard Cohen, das an der gegenüberliegenden Wand hängt, damit er immer bei ihr ist,
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